Zwischen Abwehr und AufnahmeGeflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze
Vor einem Jahr versuchten Tausende über Belarus nach Polen zu gelangen. Polens Regierung reagierte mit Militär und einem Grenzzaun. Trotzdem werden pro Monat noch immer etwa 1.000
Versuche registriert, die Grenze zu überwinden.
Von Martin Adam | 12.12.2022
Die Landschaft zieht sich in langen grünen Wellen dahin. Es geht durch kleine, sehr kleine Dörfer mit Holzhäusern, die schon so lange hier stehen, dass man meinen könnte, nichts kann
sie mehr überraschen. Am Horizont die dichten Wäldern von Podlasie. Tagsüber geht eine tiefe Ruhe von diesem Streifen Land ganz im Osten Polens aus.
Sie ist trügerisch. Jetzt mitten in der Nacht arbeitet sich das alte Auto mit Allradantrieb auf holprigen Wegen immer tiefer in diese Wälder hinein. Draußen regnet es in Strömen, im
Scheinwerferlicht ziehen Bäume vorbei. Dahinter tiefschwarze Dunkelheit.
Der Wald wirkt auf einmal bedrohlich. Irgendwo hier müssen sie sein, die beiden Männer – möglicherweise verletzt, wahrscheinlich orientierungslos, mit Sicherheit bis auf die Knochen
durchnässt. Sie haben es durch Belarus geschafft und über die Grenze bis nach Polen. Jetzt brauchen sie Hilfe und Marianna muss schneller sein als der polnische Grenzschutz. Denn wer
zuerst ankommt, entscheidet oft über Weiterreise oder Zurückgeschicktwerden, sogenannte Pushbacks.
Sie ist ruhig und konzentriert, obwohl sie ungern nachts in den Wald geht: „Ich war neulich erst allein bei einer Gruppe und plötzlich hielt da ein Auto an und Hunde haben gebellt.
Ich war sicher, das muss der Grenzschutz sein und da habe ich mich sehr unwohl gefühlt. Ich hatte Angst, was mir selten passiert.“
„Die meisten haben Angst vor den Geflüchteten“
Plötzlich hält die Fahrerin an. Türen werden aufgerissen, Marianna springt aus dem Auto, greift sich zwei Rucksäcke von der Rückbank und verschwindet im Unterholz. Das Auto fährt
sofort weiter: bloß nicht stehenbleiben, bloß keiner Patrouille auffallen.
Als sich die beiden Männer an diesem Abend melden und ihre Koordinaten schicken, sitzt Marianna in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Sie strickt, draußen regnet es, die Gemütlichkeit
ist fast malerisch. Marianna ist umgeben von einer kuriosen Sammlung aus Marienfiguren und Jesusbildern – nicht ganz ernst gemeint, sagt sie, und lacht. An der Wand hängen zwei
Schilder aus Holz.
„Hier steht ‚Wir danken den Verteidigern Polens‘ und ‚Dank an die polnischen Sicherheitsdienst‘. Die haben wir von Bäumen abgemacht, wo sie von Bewohnern hier angebracht wurden –
entlang der Grenze. Die meisten Menschen hier unterstützen die Behörden, weil Sie Angst vor den Geflüchteten haben.“
Die Behörden bedrängen jeden, der Geflüchteten hilft
Marianna hat Angst vor den Behörden. In der Küche hängt ein Monitor. Zu sehen sind die Bilder der Überwachungskameras am Haus und auf dem Grundstück. Die Behörden würden jeden
bedrängen, der Geflüchteten hilft, sagt Marianna. Und, dass sie eigentlich anders heißt. Aber ihr echter Name, ihr Wohnort, alles, womit sie identifiziert werden könnte, müsse geheim
bleiben.
„Diese Flüchtlingskrise, also die humanitäre Krise, hat hier in Podlasie im Frühsommer letztes Jahr begonnen. Aber erst im August wurde darüber gesprochen, wie die Menschen behandelt
werden, dass sie von zwei Seiten, von polnischen und belarussischen Diensten eingekreist sind und nicht wegkommen. [...] Damals war für uns unvorstellbar, dass so etwas möglich ist
und dann noch so lange. [...] Wir sind ein Volk, das mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen ist und das nicht zulassen wird, dass so etwas hier geschieht.“ Aber es
geschieht.
Ein gut organisiertes, loses Netzwerk aus Freiwilligen
Fast 40.000 Menschen kommen in diesen Wochen im Spätherbst und Winter 2021 durch Belarus an die grüne Grenze nach Polen. Sie bleiben dort in Wäldern und Sümpfen stecken, zwischen
polnischen Grenzschützern hier und belarussischen dort. Es gibt Tote. Marianna ruft ihre Freunde an, sie will nicht mehr zusehen.
„Angefangen haben wir wirklich mit dem Einfachsten. Wir hatten eine kleine Tüte mit Wasser dabei, Schokolade und Rettungsdecken. Inzwischen tragen wir 20-, 30-Kilo-Rücksäcke in den
Wald.“
Ein knappes Jahr später ist sie Teil eines gut organisierten und doch losen Netzwerks aus Freiwilligen. Eine Gruppe hier, eine da, verbunden über Messenger. Sie nennen sich „Grupa
Granica“ – die Grenzgruppe. Seit Beginn der Krise, vermutet Marianna, dürfte das Netzwerk schon über zehntausend Menschen geholfen haben – vor allem aus dem Irak, Iran, aus
Afghanistan, Syrien, aber auch aus Kuba.
„Die Geflüchteten melden sich bei uns über eine öffentliche Telefonnummer. Dann wissen wir, wo sie sind und was sie benötigen. Dann wird die Gruppe kontaktiert, die ihnen am
schnellsten helfen kann. Wir packen die Rucksäcke und brechen auf.“
Powerbanks, SIM-Karten, Telefone, Regenjacken
Die beiden Männer im Wald haben ihre Koordinaten geschickt, und Marianna ist am nächsten dran. Während sie erklärt, setzt sich im Hintergrund ein offenkundig eingespielter Mechanismus
in Gang. Absprachen werden per Kurznachricht getroffen, Mariannas Mann verschwindet auf dem Dachboden und packt zwei Rucksäcke. Der niedrige Raum sollte eigentlich mal ein Gästezimmer
werden, jetzt ist er bis unter die Decke vollgestopft mit Schuhen, warmer Kleidung, Wasserfiltern, Schlafsäcken, Taschenlampen – Überlebenswichtigem:
„Ich gebe ihnen noch Regenjacken mit. Die normalen bringen nichts.“
„Und hast du warme Vliesjacken drin?“
„Vlies, Thermounterwäsche, Regenjacken.“
Falls nötig hat Marianna auch Powerbanks, SIM-Karten und ein paar Telefone vorrätig. Alles teuer, alles spendenfinanziert, manchmal aus der eigenen Tasche. Dann geht es los. In den
Wald.
„Hybrider Angriff“ mit aus Belarus geschleusten Menschen
Ende 2021 fällt in Warschau die Entscheidung, wie der Ansturm aus Belarus politisch zu interpretieren ist: als kriegerischer Akt. Die durch Belarus geschleusten Menschen seien, so
lautet schnell die offizielle Sprachregelung, ein „hybrider Angriff“. Die Regierung der PiS-Partei, die zuvor schon bei der EU-weiten Verteilung von Geflüchteten hart geblieben war,
zeigt sich auch diesmal, an der eigenen Grenze, kompromisslos.
PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski im November: „Wenn wir das Schlimmste, also den Krieg, vermeiden wollen, dann müssen wir die alte Regel beherzigen: Willst du Frieden, dann bereite dich
auf den Krieg vor. Oder eher: Bereite dich auf die Abwehr vor.“
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Polen riegelt sich auf eigene Faust ab
Keine Aufnahme von Geflüchteten, auch keine Hilfe durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex – Polen riegelt sich auf eigene Faust ab: mit einem fünfeinhalb Meter hohen, über 186
Kilometer langen Zaun. Mehr als 330 Millionen Euro investiert das Land – im Schnellverfahren, ohne Umweltprüfung, ohne Anhörungen. Wo kein Zaun ist, versperren der Bug oder die
Świsłocz den Weg – Grenzflüsse als natürliche Barrieren. Öffentlich ist die Regierung bemüht, die Menschen an der Grenze nicht als Schutzsuchende, sondern als Bedrohung, als Gefahr
für die Sicherheit der polnischen Bevölkerung darzustellen. Innenminister Mariusz Kaminski präsentiert Fotos, die von Telefonen der Menschen an der Grenze stammen sollen. Zu sehen:
ein Mann beim Verkehr mit einer Kuh oder einem Pferd. Jeder vierte aufgegriffene Geflüchtete habe zudem Kontakt zu Terrororganisationen wie den Taliban, erklärt Kaminski.
„Mit dieser Präsentation wollen wir unseren Bürgern bewusstmachen, mit welchen Erscheinungen wir es hier zu tun haben. Es geht nicht um Stigmatisierungen, sondern um Fakten.“
Die EU-Grenze hat gegen die Attacke aus dem Kreml gehalten
Widerspruch gibt es wenig. Zwar kritisieren Oppositionsparteien vereinzelt den Umgang mit Geflüchteten, die Menschen aufnehmen wollen aber auch sie nicht. Ein Jahr später, im
September 2022, erklärt Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak, mit den Geflüchteten aus Belarus habe man zugleich den ersten Angriff aus Moskau abgewehrt:
„Die Soldaten der polnischen Armee haben an der Seite des Grenzschutzes die polnische Grenze, die ja gleichzeitig EU-Grenze ist, gehalten. Ich bin überzeugt, dass diese Attacke im
Kreml geplant wurde und nur die Anfangsphase für den Angriff auf die Ukraine war. Den Herrschenden im Kreml ging es sicher darum, Polen zu destabilisieren. Wäre das gelungen, könnte
Polen heute der Ukraine nicht zu Seite stehen.“
Der Zaun war ein großer Schritt in die richtige Richtung, meint auch Katarzyna Zdanowicz. Kurze blonde Haare, grüne Uniform, entschiedenes Lächeln – Zdanowicz ist die Sprecherin des
Grenzschutzes in Bialystok, unweit der Grenze.
„Der Zaun ist ganz wichtig: in Hinblick auf den Schutz der Grenze, aber auch die Sicherheit unserer Mitarbeiter. Kaum vorstellbar, dass da vor zwei Jahren noch gar keine Absperrung
war. Jetzt sieht man deutlich, dass es viel weniger Versuche gibt, die Grenze illegal zu übertreten, denn es ist viel schwieriger geworden.“
Belarussische Behörden helfen beim illegalen Grenzübertritt nach Polen
„Viel weniger“ bedeute aber immer noch etwa 1.000 registrierte Versuche pro Monat – deutlich ansteigend im Oktober und November. Wobei, wie Katarzyna Zdanowicz einschränkend bemerkt,
der Zaun gut zwei Meter auf polnisches Territorium eingerückt ist. Wer auf belarussischer Seite aus dem Wald tritt und den Zaun aus der Nähe betrachtet, hat also bereits illegal die
Grenze überquert und geht in die Statistik ein. Wer dann weitergeht, tut das oft mit Unterstützung belarussischer Behörden.
„Wir hatten Fälle, da haben Menschen in Uniform einen unterirdischen Gang gegraben. Sie geben den Ausländern auch Leitern und Scheren und zeigen, in welche Richtung sie gehen sollen.
Wenn wir einschreiten, fahren die Belarussen sie an eine andere Stelle.“
Kuriere fahren Flüchtlinge weiter Richtung Deutschland
Auf polnischer Seite aber laufe alles legal ab. Das ist die Botschaft, die Katarzyna Zdanowicz an diesem Tag unterbringen will. Von Geflüchteten, die zurück in den Grenzfluss
geschoben werden, wie Marianna berichtet hatte, will sie nichts wissen. Wer aufgegriffen werde, bekomme einen medizinischen Check, etwas zu essen. Und dann?
„Dann überprüfen wir, ob die Ausländer internationalen Schutz in Polen beantragen wollen. Aber leider warten auf die Mehrheit der Ausländer schon Kuriere, Schmuggler, die sie weiter
in Richtung Deutschland fahren sollen. Also bringen wir sie zurück an die Grenzlinie, aber immer an einen sicheren Ort.“
Nach einigem Zögern und vielen Nachfragen sagt sie, es gebe so Türen im Zaun. Eigentlich für technische Wartungen. Durch die könne man aber auch Menschen zurück nach Belarus schicken.
Die offizielle Linie der Behörde ist: Kaum jemand wolle Asyl in Polen beantragen, alle wollten weiter nach Westen. Wenn kein Asylantrag gestellt wird, ist das Zurückschicken kein
illegaler Pushback. Das ist die Logik dahinter.
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Ukrainische Flüchtlinge in PolenLeben in ständiger Angst vor der Abschiebung
Flüchtlinge in Polen„Gebt ihnen eine Chance“
PiS installierte intransparente Mischung aus Miliz und Bürgerwehr
Marianna weiß nicht, auf welche Behörden sie im Wald treffen wird. Der Grenzschutz ist unterwegs, das Militär, manchmal die Polizei, aber auch sogenannte WOT-Einheiten – eine
Spezialität des polnischen Militärs. „WOT“ steht für Wojska Obrony Terytorialnej, territoriale Verteidungsstreitkräfte – eine Erfindung der PiS-Regierung, eingeführt kurz nachdem sie
2015 gewählt wurde.
In Werbefilmen für diese Einheiten sieht man ganz normale Menschen. Die Territorialverteidigungseinheiten sind eine Mischung aus Miliz und Bürgerwehr. Das Motto der Einheit: „Immer
bereit, immer in der Nähe“.
„Bewaffnete Männer allein im Wald“, sagt Marianna zynisch. Die WOT-Einheiten seien ohne Hoheitsabzeichen, ohne Name oder Identifikationsnummer unterwegs. Im Ernstfall sei nicht
erkennbar, ob vor ihr und den Geflüchteten ein Soldat stehe oder einfach jemand, der sich privat mit Tarnkleidung und Waffe eingedeckt habe. In beiden Fällen eine Gefahr, findet
Marianna.
Wer es über den Zaun schafft, ist oft verletzt
Aber jetzt, hier nachts im Wald, kann sie überhaupt niemanden sehen – keine bewaffneten Soldaten, aber auch nicht die beiden Geflüchteten, die sie sucht. Sie ist schon zigmal in immer
größer werden Kreisen um den Standort, der ihr zugeschickt wurde, herumgelaufen – nicht auf Waldwegen und -pfaden, sondern da, wo man sich verstecken würde, wenn man Schutz vor Regen
und Patrouillen sucht: im ganz dichten Unterholz. Das Waldstück liegt zwischen zwei Wegen. Immer wenn Marianna an einer Seite herausstolpert, atmet sie tief durch. Einmal zieht sie
ihre Gummistiefel aus, dreht sie um und kippt Wasser auf den Weg. Es hilftnichts, sie geht
wieder rein in den Wald. Inzwischen hat sie die Stirnlampe eingeschaltet, aber nur das rote Licht. Sollte doch jemand vorbeikommen, ist das vom Weg aus nicht so gut erkennbar. Ihr
Telefon wird nass, das Display reagiert nicht mehr, es ist kalt.
„Sie müssen hier irgendwo sein. Wir hätten schon zweimal über sie stolpern müssen. Vielleicht sind sie hier und wir haben direkt neben ihnen gestanden und sie nicht bemerkt. Wenn sie
nicht wissen, wer da ist, sagen sie kein Wort.“
Außer den Koordinaten in der ersten Nachricht gab es kein Signal mehr. Der letzte Kontakt liegt inzwischen Stunden zurück.
„Sie wissen ja nicht, dass wir kommen. Der Kontakt ist abgerissen. Wir gehen jetzt nochmal rein und suchen sie genau in der Mitte.“
Aber nichts. Vielleicht sind die Männer hier irgendwo und verstecken sich, vielleicht sind sie aber auch nicht mehr imstande, sich zu melden. Wer es über den Zaun schafft, ist oft
verletzt, hat Schnittwunden vom Stacheldraht, Verstauchungen oder Brüche vom Sturz.
Helferinnen und Helfer sind in der Minderheit
Marianna wird die beiden Männer in dieser Nacht nicht mehr finden. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Dunkelheit gibt sie auf.
Marianna ist nicht allein. Es gibt auch andere, die helfen wollen und die es, wenn überhaupt, nur nachrangig interessiert, ob ein Mensch in Not legal oder illegal die Grenze
übertreten hat. Es gibt Stiftungen, die mit den Behörden kooperieren und die versorgen, die nicht zurückgebracht werden oder in Abschiebehaft landen. Aber die Helferinnen und Helfer,
offiziell oder, wie Marianna, im Geheimen, sie alle sind in der Minderheit.
„Ich habe nie jemanden gesehen, aber als letztes Jahr meine Enkelin bei mir war, habe ich ihr verboten, raus in den Park zu gehen. Ich habe ihr gesagt: Du siehst dunkel aus,
du hast dunkle Haare und so. Die werden dich einfach als eines ihrer Kinder mitnehmen.“
Jetzt dürfe das Kind wieder raus, die Lage habe sich ja beruhigt, dank Zaun und auch weil der Ausnahmezustand, den die Regierung verhängt hatte, wieder aufgehoben wurde. Ein Mann
kommt vorbei, auch er auf dem Weg zum Laden. Auch er sagt, es sei besser jetzt:
„Ich habe gehört, dass schon noch welche über die Grenze kommen, aber es ist besser, weil es viel weniger sind. Am Anfang hat meine Frau einige gesehen, aber sie wurden dann schnell
von der Armee und dem Grenzschutz mitgenommen. Die Menschen hier haben sich schon gefürchtet.“
Feindseligkeit gegen heimische muslimische Tartaren
Wie komplex, wie uneindeutig die Lage ist, davon kann auch Bronisław Talkowski berichten. Er wohnt in Kruszyniany, ebenfalls ein kleines Dorf nahe der Grenze, aber eines, das in ganz
Polen bekannt ist. Denn im Zentrum von Kruszyniany steht ein über 200 Jahre altes Holzhaus. Grün gestrichen mit zwei Türmchen erinnert es an eine Dorfkirche. Aber auf dem Dach ist
kein Kreuz zu sehen, sondern ein Halbmond. Das Dorf hat eine Moschee. Knapp 5.000 Tartaren leben in Polen, 100 davon hier in Kruszyniany – mehrheitlich Muslime. Und Bronisław
Talkowski ist eine Art Gemeindevorsteher. Als 2021 die Geflüchteten kamen, wurde er plötzlich angefeindet.
„Denn die meisten sind Muslime, wenn auch nicht alle. Und die Medien berichten so, dass Muslime hier nicht willkommen sind. Einmal hat ein Redakteur des öffentlichen Fernsehens
gesagt, man müsste alle Muslime aus Polen rausschmeißen. Da habe ich öffentlich gesagt, ich bin doch auch Muslim. Ich kann meine Geschichte hier über 600 Jahre zurückverfolgen. Ich
kann das mit Dokumenten nachweisen. Und jetzt? Soll ich mir ein neues Land suchen?“
Zwischen Rassismus, Mitgefühl und Überforderung
Wie sehr Religion und Herkunft darüber entscheiden, wer in Polen Solidarität oder Ablehnung erfährt, zeigt spätestens die überwältigende Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine. Hier
gibt es offene Türen statt Grenzzaun. Aber seine eigene Diskriminierung macht aus Bronisław Talkowski noch lange keinen Helfer, der nachts in die Wälder geht. Auch er findet, die
Staatsgrenze muss geschützt und illegale Grenzübertritte müssen verhindert werden.
Es ist eine verworrene Gefühlslage an der Grenze zu Belarus – irgendwo zwischen Angst und Rassismus, Mitgefühl und dem Wunsch, zu helfen, dem Drang sich vom belarussischen Regime
nicht erpressen zu lassen und schierer Überforderung.
„Auf der belarussischen Seite soll es schon Tote geben“
Wenige Wochen später meldet sich Marianna per Telefon. In Polen ist der Winter eingebrochen. Es schneit, die Temperaturen fallen nachts unter null Grad. Marianna berichtet, wie
gefährlich es jetzt für die Geflüchteten wird.
„Die Menschen, die wir antreffen, sind schrecklich durchgefroren. Gestern zum Beispiel hatte eine Person so erfrorene Beine, dass wir sie ewig nicht aufwärmen konnten. Der Mann hatte
nur Socken an. Die Menschen, die über die Grenze kommen, brauchen dringend Hilfe, warmes Essen, warme Kleidung. Wir haben Angst, dass sie ums Leben kommen. Auf der belarussischen
Seite soll es schon Tote geben.“
Marianna und ihre Mitstreiter werden weiter in die Wälder gehen und Geflüchteten helfen. Sie werden ihre Haltung nicht ändern. Die polnische Regierung allerdings auch nicht.
Inzwischen lässt sie auch die Grenze zum russischen Gebiet Kaliningrad mit Stacheldraht sichern – aus Angst, Russland könnte die gleiche Taktik anwenden wie Belarus und Menschen, die
eigentlich vor Krieg, Armut oder Verfolgung fliehen, als Waffe gegen die EU einsetzen.
Die Situation in Belarus ist für die Betroffenen weiterhin unerträglich. Uns erreichen immer mehr Hilferufe von Angehörigen aus Deutschland, deren Verwandte in Belarus feststecken. Wir
stellen zwei Einzelfälle vor.
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern eine sofortige Aufnahme der Schutzsuchenden, die in Belarus gestrandet sind. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen,
Aktivist*innen und Journalist*innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu retten. Es braucht jetzt umgehend eine
politische Lösung, noch vor Weihnachten.
„Wir erwarten, dass Kanzler Scholz die Leisetreterei und die Politik der stillschweigenden Tolerierung der Aussetzung des Rechtsstaates an den EU-Grenzen beendet“, fordert Günter Burkhardt,
Geschäftsführer von PRO ASYL. Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen zu schützen und entschlossen für sie
einzutreten – das muss sie nun umgehend tun.
„An den Grenzen Europas wird europäisches Recht gebrochen. Es ist nicht verständlich, warum Europa die Menschen im Wald verhungern und erfrieren lässt, anstatt sie aufzunehmen. Würde Deutschland
sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklären, so wäre Lukaschenkos Druckmittel demontiert“, kommentiert Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.
Belarussische und polnische Grenzschützer stehen sich bewaffnet an der Grenze gegenüber. Die belarussischen Behörden treiben die Schutzsuchenden auf die polnische Seite der Grenze. Die
Schutzsuchenden werden aber von den polnischen Grenzschützer:innen wieder zurückgedrängt. Im Grenzgebiet müssen die Betroffenen bei frostigen Temperaturen im Wald ausharren. Für manche hat das
ein tödliches Ende (siehe Fallbeschreibung unten).Der Spiegel dokumentiert in seiner neuesten Ausgabe das Leben und den Tod von 17 Geflüchteten an der EU-Grenze zu Belarus.
Selbst wenn Gruppen von Geflüchteten es mehrere Kilometer weit über die Grenze ins polnische Staatsgebiet geschafft haben, sind sie nicht in Sicherheit. Immer wieder berichten Menschen, dass die
polnischen Grenzbeamten sie wieder in das Grenzgebiet zurückbringen. Es bleibt den Schutzsuchenden nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, die Grenze zu überqueren. Dabei berichten
einige, dass die Sicherheitskräfte ihnen ihre Ersparnisse stehlen. Vielfach werden die Betroffenen auch in andere Grenzregionen verschleppt und erneut auf polnisches Gebiet getrieben.
Während die EU weitere Sanktionen für Belarus diskutiert, nutzt Lukaschenko Geflüchtete als politisches Druckmittel gegen die Europäische Union. Die polnische Regierung reagiert mit illegalen
Pushbacks und wendet massive Gewalt an, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Rechtsstaatliche Verfahren werden verweigert. Was vor wenigen Jahren noch Fantasien einer Minderheit rechter
Akteur:innen war, ist Realität geworden. Dennoch lässt der öffentliche Aufschrei auf sich warten. Im Gegenteil – viele europäische Politiker:innen loben den polnischen Grenzschutz; Europa werde
verteidigt. Suggeriert wird, es wäre eine Katastrophe, wenn einige tausend Menschen nach Europa einreisen würden. Geflüchtete werden zu einer Bedrohung gemacht.
Rechtswidrige Abschiebungen werden zur Realität
Nachdem Lukaschenko finanzielle Unterstützung für Belarus forderte, kündigte die EU an, 700.000 Euro für humanitäre Hilfe zu gewähren. Zusätzlich sollen 3,5 Millionen Euro für die Rückreise der
gestrandeten Menschen über die Uno-Hilfsorganisationen bereitstellt werden. Dieses als „Rückreise“ beschriebene Prozedere beschreibt faktisch die von Europa finanzierte Abschiebung in die
Heimatländer – rechtswidrige Abschiebungen in die Kriegs- und Krisengebiete, wie Syrien oder dem Irak werden somit zur Realität.
Eine besondere Verantwortung sehen PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen für alle Schutzsuchenden, bei denen besondere Beziehungen zu Deutschland bestehen, zum Beispiel aufgrund
familiärer Bezüge. Dieser Gesichtspunkt ist bisher in der Politik überhaupt nicht wahrgenommen worden. Eine Rückkehr ins Heimatland ist für die meisten Flüchtlinge jedenfalls keine Option.
Farida L.*, eine aktuell in einer Lagerhalle in Belarus gestrandete Schutzsuchende:
„Wir sind vor Krieg und Leid geflohen und suchen Sicherheit, Frieden und Stabilität. Wir würden eher durch eine Kugel oder die Kälte an Ort und Stelle sterben als zurück an diesen
unsicheren Ort zurückkehren.“
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL fordern eine sofortige Aufnahme der in Belarus aufhältigen Menschen in Deutschland – auch in Niedersachsen. Da der Zugang von internationalen
Hilfsorganisationen, Aktivist:innen und Journalist:innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu erhalten.
Ein 71-jähriger Syrer wurde Zeuge vom Tod seiner Begleiterin
Mustafa B.* ist Ende September nach Belarus eingereist. In seinem Heimatland Syrien droht ihm Haft. Sein Sohn lebt Lüneburg. Der 71-jährige ist, wie so viele, als politischer Flüchtling mit einem
Touristenvisum nach Belarus gereist. Man sagte ihm, von dort werde er leicht nach Europa weiterreisen können.
Bereits wenige Tage nach seiner Einreise fand er sich gemeinsam mit einer syrischen Frau in der polnisch-belarussischen militärischen Grenzzone mitten im Wald wieder. Die polnischen Grenzbeamten
drängten die Schutzsuchenden in die Hände der belarussischen Grenzschützer, die dann wiederum die Schutzsuchenden an der Rückreise nach Belarus hinderten.Die belarussische Armee rief ihnen zu:„Entweder gehen sie nach Polen, oder Sie werden im Wald
sterben.“
Die Begleiterin von Mustafa war stark entkräftet. Von Tag zu Tag baute sie weiter ab. Als ihr Begleiter die belarussischen Sicherheitskräfte um medizinische Nothilfe für die Frau bat, wurde er
erniedrigt, ausgelacht und gewaltsam zurückgedrängt. Schließlich starb die Frau aufgrund der verweigerten medizinischen Notversorgung und Einsperrung im Grenzgebiet.
Im Zuge des Abtransports der verstorbenen Frau gelangte Mustafa wieder nach Minsk. Nach den schweren und traumatischen Erlebnissen sitzt er dort nun fest und hofft auf die Möglichkeit, bei seinem
Sohn nach Niedersachsen aufgenommen zu werden. Seine Habseligkeiten und Dokumente verlor er im Chaos im Wald. Sein gesundheitlicher Zustand ist mittlerweile sehr kritisch.
57-jährige Alzheimer-Patientin sitzt in Lagerhalle fest
Wassila A.* musste bereits mehrfach innerhalb Syriens flüchten, bis sie die Möglichkeit bekam,
nach Belarus zu gelangen. Man sagte ihr, sie könne von Minsk aus nach Deutschland weiterreisen, um zu ihren in Deutschland lebenden zwei Kindern zu kommen. Wassila leidet anAlzheimer-Demenz, einer unheilbaren Störung des Gehirns. Sie ist zunehmend vergesslich, verwirrt und
orientierungslos. Aufgrund einer Nierentransplantation ist sie darüber hinauslebenslang auf
immunsupprimierende Medikamente und regelmäßige Untersuchungen angewiesen,ohne die sie
nicht überleben würde.
Derzeit wird sie in einer der für gestrandete Geflüchtete errichteten Lagerhalle mit ca.
zweitausend weiteren Schutzsuchenden festgehalten. Die Versorge in der Lagerhalle ist jedoch katastrophal. Nach einer Notbehandlung im Krankenhaus wurde ihr von den Sicherheitskräften ein
Transport zurück zu der polnisch-belarussischen Grenzzone angeboten, wo tausende von Menschen im Wald in der Kälte ausharren in der Hoffnung, in der EU Schutz zu finden.Gleichzeitig wird gedroht, man werde die
Lagerhalle in Kürze abbauen und alle abschieben. Die Menschen werden so gezielt in Panik versetzt.
Der volljährige Sohn und die volljährige Tochter von Wassila leben bereits seit mehreren
Jahren in Deutschland und sind die einzigen Bezugspersonen, die sie in ihrem jetzigen Zustand begleiten und unterstützen könnten. Nun machen sie sich große Sorgen, ob ihre Mutter vor ansteckenden
Erkrankungen geschützt wird und ob sie die notwendigen Medikamente erhält. Jeder weitere Tag in dieser Lagerhalle ist mit einem großen Risiko verbunden und könnte sie das Leben
kosten.
Erfroren, ertrunken, vor Erschöpfung gestorbenDie Toten von der polnisch-belarussischen Grenze
Eine irakische Mutter, ein Fußballfan aus dem Jemen, ein Teenager aus Syrien: Mindestens 17 Menschen sind seit September im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen gestorben. Dieser
Text erzählt von ihren Träumen, Ängsten und Zielen.
Die neuen Toten werden hinten begraben, dicht an dicht, im äußersten Winkel des Friedhofs. Drei Männer schippen Erde auf den Sarg. Zu hören ist nur das Knirschen ihrer Schaufeln.
Dann bringen sie eine Plakette an dem Grab an. Das Todesdatum ist darauf vermerkt, darüber die Buchstaben N. N., nomen nescio, Name nicht bekannt.
Für die Männer in Bohoniki im Osten Polens ist es die zweite Beerdigung in drei Tagen. Über den Toten wissen sie nur, dass er nicht aus der Region stammte, Muslim sein soll und
ein Pilzsammler im Wald seine Leiche fand. Die Gemeindemitglieder sind gekommen, um gemeinsam mit dem Imam für den Toten zu beten.
In Bohoniki, an der Grenze zu Belarus, liegt Polens größter muslimischer Friedhof. Seit November werden hier einige jener Menschen beigesetzt, die auf der Flucht aus Belarus gestorben sind.
Der Imam hofft noch immer, die Toten irgendwann in ihre Heimatländer überführen zu können. Dann könnten Verwandte ihre Gräber besuchen. Jetzt legen Fremde Blumen ab.
Das Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus hat sich in eine Todesfalle verwandelt. Soldaten aus Polen und Belarus stehen sich gegenüber, dazwischen saßen über Wochen hinweg Tausende
Geflüchtete fest. Inzwischen sind einige von ihnen in ihre Heimatländer zurückgekehrt, doch noch immer harren Gestrandete in dem Grenzstreifen aus.
Seit September haben im Schnitt fast jede Woche Menschen hier ihr Leben verloren, weil sowohl Belarus als auch die EU fast jede Hilfe versagten. Sie sind erfroren oder im
Grenzfluss Bug ertrunken. In den Meldungen der Nachrichtenagenturen bleiben die Toten fast immer namenlos. Europas Politikerinnen und Politiker bezeichneten sie als »Waffen« des
belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko in einem »hybriden Krieg« gegen Europa. Tatsächlich waren sie Menschen mit Träumen, Ängsten, Zielen.
Reporterinnen und Reporter des SPIEGEL haben gemeinsam mit der Medienplattform Lighthouse Reports wochenlang recherchiert, wer diese Menschen waren und weshalb sie starben. Sie
gingen Hinweisen im Netz nach, sprachen mit Angehörigen, Ermittlern, Ärzten, Sicherheitskräften und Menschenrechtsaktivisten in Belarus, Polen, Deutschland, Syrien, dem Jemen und
Irak.
Der SPIEGEL kann den Tod von 16 Erwachsenen und einem ungeborenen Baby nachweisen. Die wahre Zahl ist wahrscheinlich höher. Von zwölf der Toten sind die Namen bekannt. Unter ihnen
sind ein syrischer Konditor, ein Fußballfan aus dem Jemen und eine Irakerin, die ein Kind in sich trug, als sie sich auf die Reise machte. Dieser Text erzählt von ihren Leben.
Die Ernährerin
Die Nachricht verbreitete sich im September wie ein Lauffeuer im palästinensischen Flüchtlingslager von Hama, einer Stadt im Nordwesten Syriens. Ein junger Palästinenser hatte es
geschafft. Er war aus dem Lager über Belarus in die Niederlande gereist. Auch Rajaa Hasan hörte davon und glaubte: Da ist sie endlich, die Chance auf ein besseres Leben in Europa.
Hasan kannte nur die Welt der überfüllten Flüchtlingslager. Sie wurde weiter nördlich in einem Camp geboren, lebte nun in dem eng bebauten Flüchtlingsviertel in Hama mit ihrem
Mann und vier Söhnen. Mit Stickereien verdiente sie umgerechnet zwei Dollar am Tag, erzählt ihr Bruder am Telefon.
Hasan holte sich bei dem jungen Palästinenser in den Niederlanden die Nummer von einem Kontaktmann, der die Reise nach Minsk für 3700 Dollar organisierte. Die Weiterreise in die
Niederlande sollte 2500 Dollar kosten. Hasan musste es allein versuchen. Ihr Ehemann war zu krank. Hasan glaubte, es schaffen zu können, sagt ihr Bruder, auch weil die Schmuggler
behaupteten: »Alles kein Problem. Du steigst ins Flugzeug nach Minsk. Wir bringen dich zur Grenze nach Polen, du läufst drei bis vier Stunden, dann bist du in der EU.«
Hasan deckte sich in Minsk mit warmer Kleidung und getrockneten Datteln ein. Dann fuhr sie gemeinsam mit drei weiteren Geflüchteten an die Grenze. Die Schutzsuchenden irrten durch
den Wald, wurden nass, froren. Hasan wurde immer langsamer, bekam kaum noch Luft, wollte alle zehn Minuten eine Pause machen, erzählt ein Syrer, der sich der Gruppe im Wald
anschloss. Irgendwann entdeckten polnische Sicherheitskräfte die Gruppe. Sie hievten die Geflüchteten auf einen Lastwagen, auch die erschöpfte Hasan. Doch statt sie in ein
Krankenhaus zu bringen, schleppten sie sie zurück nach Belarus.
Hasan konnte kaum noch stehen. Sie klagte über Schmerzen in der Brust. »Die Frau stirbt!«, rief der Syrer belarussischen Grenzschützer zu. Doch diese hätten nur gelacht, sagt er.
Hasan war schon nicht mehr ansprechbar, sie hatte weißen Schaum vor dem Mund, als belarussische Soldaten sie schließlich doch am 8. November in die nächstgelegene Stadt Grodno
brachten. Aber statt die Frau sofort in eine Klinik einzuliefern, riefen sie ein Taxi. Die Geflüchteten sollten für die Fahrt nach Minsk 600 Euro bezahlen.
Hasans Puls hörte auf zu schlagen. Die Männer holten sie aus dem Wagen, legten sie auf den Asphalt. Auch herbeigerufene Sanitäter konnten Hasan nicht mehr wiederbeleben.
Die Familie in Hama erfuhr von Rajaa Hasans Tod durch ihren syrischen Begleiter. Er ließ ihnen auch zwei Audionachrichten übermitteln. Hasan hatte sie noch im Wald für ihre Mutter
aufgenommen, aber nicht mehr abschicken können: »Wie geht es dir, Mama?«, fragte sie. »Uns geht es gut, bete für uns.«
Der Muttersohn
Als seine Freunde ihm erzählten, dass man über Belarus in die EU gelangen könne, zögerte Kawa Anwar Mahmood al-Jaf nicht lange. Er arbeitete auf dem Markt in der Stadt
Sulaimanija, im Nordirak. Anfang November machte er sich auf den Weg, gemeinsam mit ein paar Bekannten. 3500 Dollar zahlte al-Jaf für die Reise nach Minsk. Ein Selfievideo zeigt
den jungen Mann vor einem Einkaufszentrum. Er trägt eine blaue Winterjacke, den Schal hat er sich bis unter die Nase gezogen.
Als Kind, so sagt seine Schwester, habe al-Jaf eine besonders enge Bindung zu seiner Mutter gehabt. Sie erinnert sich noch, wie er sie küsste, wenn sie ihm Geschenke oder neue
Kleidung mitbrachte. Später fuhr al-Jaf an den Wochenenden mit seinen Freunden in die Berge, aß gegrilltes Fleisch; Shawarma war sein Lieblingsgericht. Er träumte von einem Leben
in der Schweiz, in Europa wollte er Informatik studieren.
Sechsmal versuchte al-Jaf vergebens, den polnischen Grenzzaun zu überwinden, so erzählt es sein Vater, der mit ihm in Kontakt blieb. Zweimal hätten polnische Grenzschützer ihn
zurückgestoßen. Erst beim neunten Mal klappte es, al-Jaf schaffte es tief nach Polen hinein, zusammen mit einer Gruppe Kurden. Kurz darauf riefen al-Jafs Begleiter seinen Vater
an. Ein Schmuggler fahre sie nach Deutschland, aber seinem Sohn gehe es nicht gut, er könne nicht laufen. Dann ein weiterer Anruf: Sie seien jetzt im Auto, seinem Sohn gehe es
immer schlechter. Al-Jafs Vater schaltete seinen Schwiegersohn ein, der in Dänemark lebt. Dieser flehte die Gruppe an, al-Jaf in ein Krankenhaus zu bringen. Doch die jungen Männer
aus Said Sadik lehnten ab, offenbar aus Angst, erwischt zu werden. Am 23. November bekam al-Jafs Vater den letzten Anruf. Die Gruppe habe es nach Frankfurt geschafft. Aber sein
Sohn sei tot.
Das Nesthäkchen
An einem kalten Novembertag sitzt Ahmad al-Ensi in einem Bahnhofscafé in Neumünster. Drei Wochen ist es her, dass er die Grenze von Belarus nach Polen überquert hat. Er steht noch
immer unter Schock. Sein Freund Ahmad al-Hasan ist tot, ertrunken im Fluss – und um ein Haar wäre al-Ensi es auch.
Ahmad al-Hasan war das jüngste von sieben Kindern. Das Nesthäkchen der Familie, seine Brüder sagen am Telefon: das Lieblingskind. Er selbst wollte lieber Amir genannt werden.
Ahmad fand er zu gewöhnlich. Auf Fotos wirkt al-Hasan ein wenig wie ein Gigolo mit seinem dünnen Schnurrbart, den gezupften Brauen und dem provokanten Blick.
Al-Hasan war noch ein Kind, als seine Eltern mit ihm vor dem Krieg aus Homs in Syrien nach Jordanien flohen, wo sie jahrelang in einem Lager lebten. Nach dem Tod des Vaters zog
die Familie nach Mafrak, eine Wüstenstadt, nicht weit von der syrischen Grenze.
Al-Hasan wollte Anwalt werden, neben der Schule putzte er für die Stadtverwaltung. Er machte seinen Abschluss mit einem Schnitt von 1,7. Doch für ein Studium reichte das Auskommen
der Familie nicht. In der Türkei, wo sein Bruder Salman lebt, ist das Studium günstiger. Doch al-Hasan bekam kein Visum.
Al-Hasan redete nicht besonders viel, schon gar nicht über sich selbst, sagen seine Brüder. Dass er eine Freundin in Damaskus hatte, die er über Social Media kennengelernt hatte
und heiraten wollte, erfuhren sie durch Zufall. Dass er gemeinsam mit seinem Freund Ahmad al-Ensi über Belarus nach Europa reisen wollte, erzählte er ihnen kurz vor dem Abflug.
Seinem Bruder sagte er, er brauche sich keine Sorgen zu machen, das sei alles ganz leicht.
Al-Ensi flog einen Tag später als al-Hasan. Auf seinem TikTok-Kanal filmte er den Abschied von seiner Familie in Damaskus. Er weinte und umarmte seine Angehörigen.
In Minsk buchten die beiden Freunde ein Zimmer im Hotel Belarus. Sie liefen durch die Stadt, schossen Fotos. Eines zeigt al-Hasan in karierter Hose und schwarzer Jacke, lässig
stellt er ein Bein auf eine Mauer.
Obwohl die beiden Syrer sieben Nächte im Hotel Belarus bezahlt hatten, wurde ihnen nach zwei Nächten gesagt, es sei Zeit, an die Grenze zu fahren. Ein Mann namens Abu Adam sollte
die Flucht über die Grenze nach Polen organisieren, 2500 Dollar verlangte er pro Person. Ein Iraker schaffte die beiden Jungen mit einem Auto an die Grenze, gemeinsam mit sechs
weiteren Geflüchteten. Die letzten Kilometer nach Polen sollten sie zu Fuß zurücklegen, im Schutz der Dunkelheit.
Gegen drei Uhr früh erreichte die Gruppe den Grenzfluss Bug. Vier belarussische Soldaten mit Maschinenpistolen und Schäferhunden kamen auf sie zu. Die Männer sagten den
Geflüchteten, dass sie die Schlauchboote aufblasen sollten, so wird es al-Ensi später schildern. Dann trieben sie sie in Richtung Fluss.
Schon am Ufer ist der Fluss einen halben Meter tief, in der Mitte deutlich tiefer. Al-Ensi erinnert sich, er habe al-Hasan noch gewarnt: »Den können wir nicht überqueren.« Aber
sein Freund war bereits in das Boot geklettert. Ein Soldat kam auf sie zu. Als al-Ensi sagte, er wolle umkehren, habe der Soldat nur befohlen: »Geht nach Polen!« Dann habe er das
Boot vom Ufer weggeschubst.
Die beiden Freunde paddelten etwa bis zur Mitte des Flusses. Plötzlich erfasste eine Stromschnelle das Boot und brachte es zum Kippen. Al-Hasan und al-Ensi fielen ins Wasser.
Al-Ensi stieß mit seinem Kopf gegen einen Stamm, er hielt sich fest und rettete sich an Land. Er hörte noch, wie al-Hasan nach Luft schnappte. Dann war es still.
Die Schwangere
Avin Irfan Zahir und ihr Mann Baravan Husni Murad haben fünf Kinder, das jüngste acht, das älteste 16 Jahre alt. Und dann war da noch ein Fötus, von dem die beiden Eheleute nichts
ahnten, als sie aus dem Irak nach Belarus aufbrachen.
Tagelang irrte die Familie durch das polnisch-belarussische Grenzgebiet. Es ging Zahir immer schlechter. Irgendwann konnte sie kaum noch laufen. Als polnische Aktivisten die
Familie im Wald fanden, lag Zahir wimmernd auf dem Boden, sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, spuckte Galle. Ihre Körpertemperatur war auf 27 Grad gefallen. Das Baby
in ihrem Bauch war zu diesem Zeitpunkt schon tot.
Drei Wochen lang kämpften die Ärzte in einem polnischen Krankenhaus um Zahirs Leben, vergebens. Baravan Husni Murad gab dem ungeborenen Kind den Namen Halikari. Nun will er zurück
in den Irak.
Ein gutes Herz
Mehr als einen Monat nachdem Issa Jerjos auf europäischem Boden gelandet war, versammeln sich in seinem Dorf im Westen Syriens 300 Menschen, um seiner zu gedenken. In der Kirche,
so erzählen Teilnehmer des Gottesdienstes am Telefon, betet der Pfarrer für den Christen Jerjos.
Issa Jerjos war der älteste Sohn eines Lastwagenfahrers. Fotos zeigen einen kräftigen jungen Mann mit warmen braunen Augen, die Haare nach hinten gegelt, den Bart sorgsam
gestutzt. Jerjos’ Freundin, Bernadate, verliebte sich vor fast zehn Jahren in Issa. Damals waren die beiden noch Teenager, besuchten dieselbe Schule.
Bernadate denkt jetzt oft an Issas Geruch zurück, an den Zitrusduft seines Parfüms, das er immer benutzte. Sie erinnert sich an das goldene Kreuz, das er ihr vor zwei Jahren
schenkte. Und an ihre Initialen, die Jerjos als Liebesbeweis in einen Baum ritzte. »Issa hat mich nie belogen«, sagt sie. »Er hatte ein gutes Herz.«
Jerjos und Bernadate träumten davon zu heiraten. Ein Informatikstudium hatte Jerjos abgebrochen, um Geld für seine Familie zu verdienen. In Beirut fuhr er auf einem Motorrad
Essen aus, später arbeitete er im kurdischen Erbil als Straßenhändler. Jeden Monat schickte er 100 Dollar nach Hause, manchmal etwas mehr. Als auch in Erbil kaum noch Geld zu
verdienen war, entschied sich Jerjos, Richtung Europa aufzubrechen. Sein neues Ziel hieß Deutschland.
Am 15. September kam Jerjos in Minsk an. Mit zwei Syrern, die er unterwegs getroffen hatte, schaffte er es nach Polen. Doch polnische Sicherheitskräfte, so schrieb er seiner
Freundin per WhatsApp, hätten ihn gefasst und zurück auf die belarussische Seite gezwungen.
Beim zweiten Anlauf verlor er seine Begleiter, schlug sich allein durch. Um halb vier Uhr morgens schickte Jerjos seiner Freundin den letzten Standort. Dann, so sagt Bernadate,
sei sein Handyakku leer gewesen. Sie habe nie wieder von ihm gehört.
In den Tagen danach suchten polnische NGOs nach Jerjos. Wochen später, am 13. Oktober, entdeckten polnische Polizisten seine Leiche auf einem Feld – nicht weit von dem Standort
entfernt, den er seiner Freundin zuvor geschickt hatte.
Jerjos’ Angehörige wissen bis heute nicht, woran er gestorben ist. Die polnische Staatsanwaltschaft hat eine Ermittlung eingeleitet, seine Familie einen Anwalt eingeschaltet, sie
hofft, zu Issas Beerdigung nach Polen reisen zu dürfen.
Familienmensch
Al-Zabhawi war verheiratet, seine Tochter Azal ist zwei Jahre alt. Trotz seines Wirtschaftsstudiums fand er keinen Job. Er wollte nach Deutschland, um Geld für seine Familie zu
verdienen, sagt sein Bruder Haidar am Telefon. Die Reise über Belarus nach Polen sollte 5000 Dollar kosten, al-Zabhawi lieh sich das Geld.
Mehrere Tage lief er im September mit zwei irakischen Geflüchteten durch den Wald zwischen Belarus und Polen. Einer seiner Begleiter sendete der Familie mehrfach den Standort.
Irgendwann erhielt Haidar al-Zabhawi im Irak eine Nachricht: Ahmed sei krank. Er werfe mit Gegenständen um sich, habe seine Kleidung ausgezogen. Haidar al-Zabhawi bat darum,
seinen Bruder in das nächste Krankenhaus zu bringen. »Zu gefährlich«, schrieb der Begleiter.
Die Männer wollten Ahmed al-Zabhawi im Wald zurücklassen. Haidar befahl dem Schmuggler, die Männer nicht ohne seinen Bruder mitzunehmen. Die Männer sagten: »Wir wissen nicht, wie
wir ihm helfen sollen.« Am nächsten Tag schrieben sie Haidar: »Dein Bruder ist tot.«
Der Diabetiker
Gaylan Dler Ismail konnte kaum noch sprechen, als er über WhatsApp eine letzte Nachricht an seinen Bruder Goran schickte. »Mein Bruder. Ich schwöre beim Koran, es geht mir gar
nicht gut. Ich habe noch nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen. Aber bitte erzähl es Mama nicht.« Wenige Stunden später war Gaylan Dler Ismail tot, gestorben an Überzuckerung.
Goran Dler Ismail und sein Vater Mahmood sitzen an einem Novembervormittag im Haus der Familie am Stadtrand von Erbil, im Nordirak. Sie haben die Vorhänge zugezogen und das
Telefon leise gestellt. Zwei Tage zuvor haben sie Gaylan zu Grabe getragen, nun versuchen sie, mit der Trauer fertig zu werden – und der Wut. »Die Europäer behaupten, sie würden
Menschenrechte achten«, sagt Mahmood Dler Ismail. »Warum haben sie mein Kind dann im Wald sterben lassen?«
Mahmood Dler Ismail, 53 Jahre alt, Bauer, lebte ein sorgenfreies Leben. Seine Frau hatte vier Söhne und zwei Töchter zur Welt gebracht. Der Krieg, der weite Teile Iraks verwüstet
hatte, hatte seine Familie verschont. Nur sein zweitältester Sohn Gaylan bereitete ihm Kummer: Er litt an Diabetes, seine Wirbelsäule hatte sich entzündet, zuletzt konnte er
seinen rechten Arm und sein rechtes Bein kaum noch bewegen. Mahmood Dler Ismail fand im Irak keinen Arzt, der die Schmerzen seines Sohns hätte lindern können. Er wollte ihn in
Deutschland behandeln lassen, doch das Konsulat in Erbil verweigerte ihm ein Visum.
Als im Sommer in Erbil Gerüchte die Runde machten, dass Irakerinnen und Irakern der Weg über Belarus nach Europa offenstünde, sah Mahmood Dler Ismail die Chance für Gaylan
gekommen. Er brauchte sein Erspartes auf, verkaufte sein Haus, um Gaylan nach Deutschland zu schicken. Zwei weitere Söhne, Arkan und Govand, und eine Tochter, Iman, und deren Mann
und Kind, sollten ihn begleiten. Insgesamt bezahlte Mahmood Dler Ismail 20.000 Dollar an einen Schmuggler im Irak.
Die Dler Ismails wussten, dass sich Polen gegen Neuankömmlinge abschottet. Und doch seien sie nicht vorbereitet gewesen auf die Gewalt, die ihnen an der Grenze begegnete, wird
Arkan Dler Ismail, Gaylans Bruder, später zurück in Minsk erzählen.
Beim ersten Anlauf schaffte es die Gruppe bis nach Polen, wie Ortungsdaten belegen, wurde jedoch von polnischen Soldaten zurück über die Grenze geschleppt. Beim zweiten Versuch
brach sich Iman Dler Ismail den Knöchel. Sie kam in ein polnisches Krankenhaus, alle anderen mussten zurück nach Belarus, wo sie von Sicherheitskräften getrennt wurden. Der
Schwager von Gaylan Dler Ismail kam in eine Art Straflager. Für den Diabetiker Galyan Dler Ismail war das eine Katastrophe, denn im Rucksack des Schwagers befand sich das für ihn
lebenswichtige Insulin.
Nach Tagen im Wald konnte Gaylan Dler Ismail nicht mehr laufen. Sein Bruder Arkan trug ihn auf dem Rücken. Polnische Soldaten hätten ihnen jede Hilfe verweigert, sagt Arkan. »Sie
haben Gaylan einfach beim Sterben zugesehen.«
Gaylan Dler Ismails Leichnam wurde in den Irak überstellt. Auch sein Schwager ist mit dem Kind nach Erbil zurückgekehrt. Arkan und Govand sitzen hingegen immer noch in Minsk fest,
ihre Schwester Iman wurde aus dem Krankenhaus in Polen entlassen und hat sich inzwischen bis nach Deutschland durchgeschlagen.
Bis Ende des Jahres müssen die Dler Ismails aus ihrem Haus in Erbil ausgezogen sein. Vater Mahmood sagt, er würde seine Kinder trotzdem wieder losschicken nach Europa. »Was haben
wir für eine andere Wahl?«
Der Konditor
Farhad Nabo arbeitete als Konditor in Kobane, Nordsyrien. An seinen freien Tagen spielte er mit seinen beiden Söhnen Fußball. Von seinen Fluchtplänen erzählte er kaum jemandem. Er
wollte seine Familie später nachholen.
Nach mehreren vergeblichen Anläufen gelang es ihm im Oktober gemeinsam mit einem anderen Syrer, die Grenze nach Polen zu überqueren. In einem TikTok-Video stellt ein Mann Nabo als
seinen Begleiter vor, er lacht und winkt in die Kamera. Nabo wähnte sich am Ziel, als er in Polen in das Auto eines Schmugglers stieg. Doch auf der Flucht vor der Polizei raste
der Schmuggler in einen Lastwagen. Nabo war sofort tot.
»Farhad träumte davon, seine Söhne in einen Schulbus setzen zu können, ohne Angst um sie haben zu müssen«, sagt sein Schwiegervater am Telefon. Sie wollen seinen Leichnam nun
zurück nach Syrien bringen.
Der Fußballfan
Mostafa al-Raimi hatte dreimal versucht, regulär in den Westen zu gelangen. Er hatte vergebens ein Visum für die USA, Frankreich, die Niederlande beantragt, ehe er im Herbst den
irregulären Weg wählte und von Saudi-Arabien nach Kairo reiste. Ein Schmuggler versprach ihm, ihn über Minsk nach Polen zu bringen. Von dort sollte es weiter nach Deutschland oder
in die Niederlande gehen – allein der letzte Teil der Reise sollte 1800 Euro kosten.
Al-Raimi stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater war Richter, sein Bruder arbeitet im jemenitischen Konsulat in Saudi-Arabien. Seine Familie beschreibt ihn als einen
stillen, freundlichen Mann, der viel lachte und Fußball liebte. Vor dem Krieg studierte al-Raimi in Jemens Hauptstadt Sanaa Rechnungswesen. Später fand er eine Anstellung bei
einer saudi-arabischen Bank in Dschidda. Der Job sei jedoch prekär gewesen, da immer mehr ausländische Mitarbeiter durch saudi-arabische Staatsbürger ersetzt wurden, sagt sein
Bruder Salah al-Din al-Raimi am Telefon.
Al-Raimi machte sich allein auf den Weg nach Europa. Er versprach seiner Frau und seinen beiden Kindern, sie zu sich zu holen, sobald er in den Niederlanden wäre. Gemeinsam mit
zwei weiteren Jemeniten und vier Syrern versuchte er, die Grenze nach Polen zu überqueren. Auf der Flucht vor polnischen Soldaten verloren sich die Männer. Nach Stunden fanden sie
sich wieder, nur al-Raimi blieb verschollen. Drei Tage später entdeckten polnische Grenzschützer seine Leiche.
Als Salah al-Din al-Raimi vom Tod seines Bruders erfuhr, reiste er nach Polen. Er hatte gehört, dass es in der Nacht, in der sein Bruder starb, eine Schießerei an der Grenze
gegeben haben soll. Er suchte Mostafas Körper im Leichenschauhaus nach Schusswunden ab, stellte aber fest, dass sein Bruder offenbar eines natürlichen Todes gestorben war. Die
Ärzte sagten, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Salah al-Din al-Raimi beschloss, ihn in Polen zu begraben. Er war als einziger Angehöriger bei der Beisetzung dabei.
Der Frustrierte
Kurdo Khalid wollte sich nur noch ausruhen. Er war Ende Oktober abgekämpft und erschöpft aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet nach Minsk zurückgekommen. Tagelang hatte der
Iraker versucht, mit seinem jüngeren Bruder einen Weg in die EU zu finden – ohne Erfolg. Khalid war frustriert, noch vor wenigen Jahren war es ihm gelungen, bis nach
Großbritannien zu gelangen, wo er eine Zeit lang arbeitete.
Er stellte seinen Rucksack und Schlafsack in einem schäbigen Hostel im Zentrum der belarussischen Hauptstadt ab, ging in das nahe gelegene Einkaufszentrum Galleria, einem
wichtigen Treffpunkt der Flüchtlinge. Er wollte etwas trinken und essen, setzte sich in der fünften Etage an einen der hellen Tische zwischen Imbissständen und Cafés. Plötzlich
sackte er zusammen, fiel vom Stuhl und lag regungslos am Boden, so erzählt es ein irakischer Augenzeuge. Sanitäter versuchten vergebens, Khalid wiederzubeleben. Später hieß es,
der Iraker sei an einem Schlaganfall gestorben.
Die Künstlerin
Wafaa Kamal hoffte, dass ihr elfjähriger Sohn in Europa Arzt wird, der achtjährigen Tochter wünschte sie eine Karriere als Architektin.
Kamal liebte das Schöne und Leichte, erzählt ihr Mann Haidar am Telefon. Sie hatte in Bagdad Angewandte Kunst studiert. Ihre Freizeit verbrachte sie mit Sticken und Ausflügen mit
ihren sechs Geschwistern. Der Alltag der Familie war idyllisch. Doch nachdem Wafaa und Haidar Kamal bei internationalen Organisationen angeheuert hatten, seien sie von
schiitischen Milizen bedroht worden, sagt Haidar Kamal. Sie fühlten sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Für 7200 Dollar buchte die Familie ihre Reise von Bagdad nach Minsk,
von wo aus sie weiter in die EU wollte.
In der Nähe der Stadt Grodno gelangte sie durch den Zaun ins polnische Sperrgebiet. Dahinter sollte ein Schmuggler sie abholen und nach Deutschland bringen. Pro Person hatten die
Kamals dafür noch einmal 1800 Dollar bei einer Versicherung in der Türkei hinterlegt. Den Treffpunkt sollten sie niemals erreichen.
Nach mehreren Tagen im Wald wurde Wafaa Kamal krank. Sie konnte kaum noch atmen. Haidar Kamal lief zur nächsten Straße. Nach wenigen Minuten trafen polnische Sicherheitskräfte
ein. Doch statt Wafaa Kamal ins Krankenhaus zu fahren, schleppten sie die Familie zurück an den Grenzzaun. So schildert es Haidar Kamal.
Auf der belarussischen Seite verbrachte die Familie noch eine Nacht im Wald. Am 19. September, morgens um sechs, blieb Wafaa Kamals Herz stehen. Haidar lief los, nach Stunden fand
er belarussische Soldaten. Diese hätten ihn erpresst, sagt er: Nur wenn er den Polen die Schuld am Tod seiner Frau gebe, würden sie Hilfe schicken. Kurz darauf nahmen
belarussische Ermittler zwei Videos auf, die sie später online stellten. Darin erzählt Haidar Kamal, polnische Soldaten hätten seine Frau zu Tode geschlagen. Für wenige Sekunden
sieht man den regungslosen Körper seiner Frau, die keine Schuhe mehr trägt. Die polnischen Soldaten hätten sie ihr abgenommen, schrieben die belarussischen Sicherheitskräfte dazu.
Nach dem Videodreh wurde Wafaa Kamal in ein Krankenhaus gebracht. In der Todesurkunde heißt es, sie sei an Unterkühlung gestorben. Die Kinder kamen in eine Unterkunft, Haidar
Kamal in ein Gefängnis.
Nach acht Tagen wurde er entlassen. Von den 8400 Dollar, die er zu Beginn seiner Haft noch bei sich gehabt habe, hätten die Beamten ihm nur die Hälfte zurückgegeben. 4200 Dollar
berechneten sie für die »Unterbringung« der Familie, Covid-19-Tests und die Rückflüge nach Bagdad.
Ein Spediteur verdiente als Letzter am Leid der Kamals.
5138 Dollar musste Haidar Kamal für den Rücktransport seiner toten Frau zahlen.
Die Mauern müssen fallen!
Die aktuellen Bilder der polnisch-belarussischen Grenze sind erschreckend. Menschen, die teilweiseseit
Tagen bei Minusgraden im Grenzgebietim Wald feststecken, werden gewaltvoll an der Einreise nach Polen
gehindert. Menschen sind im Grenzgebiet eingekesselt und es gab heute erste Schüsse: Die Lage spitzt sich massiv zu.
Hunderte schutzsuchende Menschen haben sich gestern zu Fuß von Belarus auf den Weg zur polnischen Grenze gemacht. Die polnische Regierung rollthunderte Kilometer Stacheldrahtaus und riegelt die Grenze
immer weiter militärisch ab. Am Grenzübergang zwischen dem belarussischen Bruzgi und polnischen Kuźnica treffen das Militär und die flüchtenden Menschen
direkt aufeinander.Doch es gibt auch keinen Weg zurück: Auf der belarussischen Seite stehen
bewaffnete Polizist*innen, die Menschen nicht zurück ins Land lassen. Es häufen sichBerichte, dass Journalist*innen und NGOs keinen Zugang zum Grenzgebiet bekommen.
Um konkrete Unterstützung zu leisten und Druck auf die deutsche Regierung aufzubauen, haben wirgestern
einen Bus an die polisch-belarussische Grenze geschickt. Mit dem Bus haben wir dringend benötigte Sachspenden zu Unterstützungsstrukturen gebracht
und vernetzen uns nun verstärkt mit polnischen Aktivist*innen vor Ort.
Darüber hinaus haben wir das Bundesinnenministerium, mit einer Frist bis heute, um eine Aufnahmezusage gebeten, um auf dem Rückweg Menschen in Sicherheit zu
bringen.München, Berlin und Rottenburg am Neckar stehen bereit, Menschen direkt
aufzunehmen. Der Oberbürgermeister Stephan Neher hat heute morgen gesagt: „Wir haben der Seebrücke unsere Hilfe zugesagt und unsere Bereitschaft
bekräftigt, Menschen aus humanitärer Not bei uns aufzunehmen, damit sie nicht als politisches Druckmittel missbraucht werden.“
Es ist Zeit, humanitäre Korridore zu schaffenund alle Menschen in Schutz zu bringen. Die Ampel
muss die Aufnahme von den Außengrenzen auf den Weg bringen und darf dem Mauerbau, gerade an so einem historischen Tag, nicht länger zusehen.
Die EU darf sich nicht länger von Diktatoren erpressbar machen.Wer die Mauern fordert, geht dem
Kalkül des Diktators auf den Leim. Statt sich gegen Lukaschenko zu wehren, baut Polen eine tödliche Mauer gegen Familien und Kinder. Die Lösung ist klar und liegt
auf der Hand: Jetzt die Menschen aufnehmen!
Der Bus ist erst ein Anfang: Wir werden in den kommenden Tagen und Wochen weiter Druck machen und uns dafür einsetzten, dass endlich ein
humanitärer Korridor eingerichtet wird. Es darf keine weitere Mauer mehr geben!
Wir rufen in den kommenden Tagen zu Aktionen aufund starten Demonstrationen in ganz
Deutschland. Viele Seebrücke Lokalgruppen wollen den Druck der Städte mit Aktionen auf der Straße unterstützen und sind in die Planung der nächsten
Aktionen bereits eingestiegen. In NRW startet zum Beispiel gerade diePlanung für eine zentrale Aktion an
diesem Wochenende. Mit Deiner Unterstützung können wir die anstehenden Aktionen den Lokalgruppen ermöglichen und auf unserer Website in
derKartenübersichtbündeln.Spende jetzt an die Seebrücke!
nennt es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Lukaschenko benutze das Schicksal der Flüchtlinge, »um den Westen zu destabilisieren«, sagt der deutsche
Innenminister Horst Seehofer, während der polnische Verteidigungsminister versichert, sein Land sei »auf die Verteidigung der polnischen Grenze vorbereitet«. Man wolle vielleicht die Nato
konsultieren. Ebenso wie das Nachbarland Litauen hat Polen im Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand verhängt. Die litauische Innenministerin spricht gar von einer
»Invasion«
Verbal einen Gang herunterschalten
Europa im Herbst 2021. Klingt als sei ein Krieg ausgebrochen. Dabei sind da nur ein paar Tausend Geflüchtete an der Außengrenze, in einem anscheinend rechtlosen
Raum. Zumindest was ihre Rechte angeht, denn einen Asylantrag konnte nach allem, was bisher bekannt ist, kaum jemand von ihnen stellen. Ein paar Tausend, die bei der Geburt geografisch nicht so
viel Glück hatten und nun mit ihren Kindern in Schneeanzügen und ihren Schlaf- und Rucksäcken bepackt hin- und hergeschubst werden.
Vielleicht wäre die erste Antwort auf die Frage, was »Europa denn jetzt tun solle«, diese hier: Verbal einen Gang herunterschalten, einen Schritt zurücktreten und
sich vergegenwärtigen, dass es um Menschen geht. Es braucht auch jemanden, der sich destabilisieren lässt
In einem zweiten Schritt könnte man einige europäische Logiken infrage stellen, die sich in den vergangenen Jahren vor allem in der Asyl- und Migrationspolitik
festgesetzt zu haben scheinen und nun wie ein riesiger Eichenschrank unverrückbar im Wohnzimmer stehen:
Abschreckung:
Wie bereits bei der Flüchtlingsbewegung Anfang 2020 an der türkisch-griechischen Grenze nehmen politisch Verantwortliche auch jetzt wieder in Kauf, dass
verzweifelte Menschen im Niemandsland in der Kälte ausharren und im Unklaren gelassen werden, wie es für sie weitergeht. Auch damals wurde martialische Rhetorik bemüht, dankte von der Leyen den
Griechen, der »europäische Schild« zu sein.
Es entstehen derzeit erneut erschütternde Bilder, von denen beide Seiten politisch etwas haben: Die autoritären Regenten, die Geflüchtete an die Grenze
»durchlassen«, um Europa unter Druck zu setzen; und europäische Handelnde, die sich eine Abschreckung durch diese Bilder versprechen gegen all jene, die vielleicht noch kommen wollen. Abgesehen
davon, dass diese Art der Abschreckung humanitär zutiefst fragwürdig ist – sie funktioniert nicht. Niemand, der Krieg, Hunger, Folter, Repression und Perspektivlosigkeit erlitten hat, wird sich
von Stacheldraht und Tränengas abhalten lassen. Das kann man auf dem Mittelmeer beobachten, an der Grenze zwischen Mexiko und den USA oder jener zwischen Afghanistan und Pakistan.
Destabilisierung:
Innenminister Horst Seehofer hat zu Recht gefolgert, dass es die Absicht des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenkos sein dürfte, den Zusammenhalt der
europäischen Staaten und auch ihr Innenleben zu destabilisieren, indem er Geflüchtete durch sein Land an die europäische Grenze schleust. Es ist die Nachahmung des Models Putin, nur
offensichtlicher, wenn man so will, weniger anspruchsvoll in der Ausführung. Doch es stellt sich die Frage, warum man auf der anderen Seite nur allzu bereit dafür zu sein scheint, sich
destabilisieren zu lassen. Warum bloß jagen ein paar Tausend Migranten den Europäern so große Angst ein? Da stehen mittlerweile mehr Uniformierte als dehydrierte und unterkühlte Menschen an der
Grenze. Und warum wird diese Angst, getarnt als Stärke (siehe Rhetorik) den Autoritären so mutwillig überreicht?
Die Definition von Realpolitik:
Das realpolitische Mantra der europäischen Asyl- und Migrationspolitik ist seit 2015, dass eine faire Verteilung von Geflüchteten nicht möglich ist, solange nicht
alle 27 Staaten mitmachen. Die Gesellschaften wollen keine weitere Aufnahme, es ist nicht machbar. So weit, so frustrierend. Doch diese Annahme von Realpolitik und Machbarkeit ist seltsam.
Zumindest für eine der wohlhabendsten und stabilsten Regionen der Welt.
Es gerät vielleicht ein wenig in Vergessenheit, aber: Geflüchtete haben Rechte. Diese Rechte sind in der Flüchtlings-, der Menschensrechts-, der Kinderkonvention
festgeschrieben. Sobald ein Migrant europäischen Boden betritt, hat er das Recht, in ebenjenem Land einen Asylantrag zu stellen. Die europäischen Regeln sind klar. Man muss sie nur befolgen und
ihre Befolgung anmahnen. Die europäische Solidarität gebietet es, dass Erstaufnahmeländer nicht allein gelassen werden. Denkbar wäre, auch jene Menschen, die noch nicht auf europäischem Boden
sind, aus dem belarussisch-polnischen Niemandsland zu holen und sie ihre Anträge stellen zu lassen. Zügig zu klären, wer bleiben darf und wer nicht. Kontrolle auszuüben, ist nicht inhuman.
Menschen in der Kälte einem ungewissen Schicksal zu überlassen, ist es schon.
Seine eigenen Regeln und Konventionen einzuhalten, wäre der »migrations- und fluchtpolitische Mittelfinger« Richtung Minsk, wie es der Sicherheitsexperte Carlo
Masala von der Bundeswehruniversität München in einem Tweet bezeichnete, weil Panzer allein nicht helfen. Es würde zeigen, dass die Strategie der Destabilisierung gegenüber Europa nicht zum
Erfolg führt. Weil man hier seine Regeln durchsetzt. Und dass man vieles gut aushält, aber nicht so gut die Verletzung der Menschenwürde.