Zum Thema - Duldung - Gerichtsentscheid von Dezember 2016

 

SG Leipzig: Bei faktischer Duldung durch Behörden dürfen existenzsichernde Leistungen für Asylbewerber nicht abgesenkt werden. Die Entscheidung ist übrigens auch relevant für Leistungsausschlüsse für Unionsbürger*innen!

SG Leipzig, Beschluss vom 02.12.2016 - S 5 AY 13/16 ER - http://dejure.org/2016,48680

 

Schöne Auszüge aus der Entscheidung:

"Darüber hinaus bestehen zumindest Zweifel daran, ob die Anspruchseinschränkung nach § 1 a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG verfassungsgemäß ist. Insbesondere wäre im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens zu prüfen, ob die Annahme des Gesetzgebers, dass Leistungsberechtigten, welchen in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat internationaler Schutz oder aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist, bei dort fortbestehendem Aufenthaltsrecht tatsächlich regelhaft ein niedrigerer Bedarf in Deutschland entsteht im Vergleich zu den Leistungsbeziehern nach § 3 AsylbLG.

Die Frage ist aufzuwerfen, da sich der Anspruch eines jeden Menschen auf die Sicherung seines Existenzminimums aus Art.
1 Abs. 1 Grundgesetz i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz ergibt (vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11; Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u.a.). Auf die Möglichkeit der Heimkehr des Ausländers in sein Herkunftsland kommt es bei dieser Betrachtung nicht an. Diese Möglichkeit ist im Hinblick auf die Ausgestaltung des genannten Grundrechts als Menschenrecht schon verfassungsrechtlich jedenfalls solange unbeachtlich, wie der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet wird (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 20.01.2016 – B 14 AS 35/15 R)."

"Die Träger der Sozialhilfe sind jedoch ebenfalls nicht dazu berechtigt, die Ausreise von Ausländern in ihr Heimatland, in einen anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einen Drittstaat dadurch herbeizuführen, dass deren menschenwürdiges Existenzminimum in Deutschland nicht mehr gesichert wird. Dieses ist unabhängig von der Aufenthaltsdauer zu sichern (s.o.). Die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthalts haben die Ausländerbehörden zu treffen. Bis dahin ist das menschenwürdige Existenzminimum zu gewährleisten. Mit Blick auf die Urteile des BVerfG haben die Antragsteller einstweilen Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach § 3 AsylbLG."

 

 

 

 

SG Leipzig: Bei faktischer Duldung durch Behörden dürfen existenzsichernde Leistungen für Asylbewerber nicht abgesenkt werden 

zu SG Leipzig, Beschluss vom 02.12.2016 - S 5 AY 13/16 ER - http://dejure.org/2016,48680

(Die Sache ist eilbedürftig, da das Existenzminimum der Antragsteller nicht gesichert ist.)

 

Asylbewerbern sind auch dann existenzsichernde Leistungen in vollem Umfang zu gewähren, wenn sie in einem anderen EU-Staat internationalen Schutz genießen, ihr weiterer Aufenthalt in der Bundesrepublik aber faktisch geduldet wird. Das hat das Sozialgericht Leipzig mit einem jetzt veröffentlichten Beschluss vom 02.12.2016 entschieden (Az.: S 5 AY 13/16 ER).

 

Zahlungen vom Landkreis gekürzt

 

Die Antragsteller, eine Mutter mit ihren beiden minderjährigen Söhnen, sind russische Staatsangehörige und reisten über Polen in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihre Asylanträge wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unzulässig abgelehnt, weil Polen aufgrund der zuvor dort gestellten Asylanträge für deren Behandlung zuständig sei. Nach einer zwischenzeitlichen Abschiebung nach Polen im April 2016 reisten die Antragsteller umgehend wieder in die Bundesrepublik ein und bezogen zunächst Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von insgesamt 1.363,61 Euro monatlich. Ihre Abschiebung war noch bis zum 03.01.2017 ausgesetzt (Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Unter Hinweis auf den in Polen bestehenden Schutz wurden durch den zuständigen Landkreis nachfolgend Leistungen gemäß § 1a Abs. 4 AsylbLG auf bis zu 1.001,53 Euro monatlich gekürzt. Hiergegen richtet sich das von den Antragstellern betriebene gerichtliche Eilverfahren.

 

Antragsteller unstreitig dem Grunde nach leistungsberechtigt

 

Das SG ordnete mit Beschluss vom 02.12.2016 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Kürzungsbescheid an, so dass den Antragstellern bis zu einer Klärung in der Hauptsache wieder die vollen Leistungen nach dem AsylbLG zustehen. Zur Begründung stellte das Gericht darauf ab, dass die Antragsteller unstreitig dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem AsylbLG seien, da sie eine Duldung nach dem AufenthG besäßen. Ob die Voraussetzungen für die Gewährung nur gekürzter Leistungen nach § 1a Abs. 4 AsylbLG vorlägen, sei derzeit noch offen. Der Landkreis habe nämlich nicht nachgewiesen, dass sich Polen nach wie vor dazu verpflichtet sehe, den Antragstellern internationalen Schutz und ein damit verbundenes Aufenthaltsrecht einzuräumen.

 

Gericht zweifelt an Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung

 

Darüber hinaus bestünden Zweifel daran, ob die Einschränkung nach § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungsgemäß sei. Der Anspruch eines jeden Menschen auf die Sicherung seines Existenzminimums ergebe sich aus dem Grundgesetz, wobei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BeckRS 2012, 71078) eine Relativierung dieses Anspruchs aus migrationspolitischen Überlegungen nicht in Betracht komme. Solange also – wie hier – der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland von den zuständigen Behörden faktisch geduldet werde, müssten existenzsichernde Leistungen in vollem Umfang gewährt werden.

 

 

© Quelle: http://rsw.beck.de/aktuell/meldung/sg-leipzig-leistungen-fuer-asylbewerber-duerfen-nicht-wegen-schutz-in-anderem-eu-staat-abgesenkt-werden