„Als wir das Flugzeug sahen, dachten wir, dass es Hilfe holen würde“, sagt Samuel Abraham. Am 10. April 2020 steigt er mit 62 weiteren Menschen an der libyschen Küste in ein Schlauchboot. Fünf Tage lang werden sie auf dem offenen Meer sein. „Wir dachten, dass diese Reise nicht so lange dauern würde. Deshalb und um Platz zu sparen, hatten wir nur wenig zu Essen und zu Trinken dabei.“ Also tranken sie das salzige Meerwasser.
Samuel Abraham hat uns letztes Jahr von der versuchten Überfahrt erzählt; für Buzzfeed News Deutschland haben wir seine Geschichte aufgeschrieben. Seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert.
Er erzählte uns, dass an einem der fünf Tage ein Frachtschiff in Sichtweite aufgetaucht sei. Einige seien ins Wasser gesprungen, hätten das Schiff nicht erreicht und ertranken. Am letzten Tag auf See wurden die übrigen Menschen von einem vermeintlichen Fischerboot aufgelesen und nach Libyen zurückgebracht. Nur 51 von ihnen erreichten Libyen lebend, neben jenen, die auf dem Rückweg gestorben waren.
Das Flugzeug, das Samuel Abraham über seinem Kopf kreisen sah, war von Frontex, der EU-Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Dies wurde so nicht nur von Journalist:innen und NGOs recherchiert, sondern auch von EU-Behörden.
Gemeinsam mit Der Spiegel and Lighthouse Reports veröffentlichen wir den Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) über Frontex. Ein Bericht, über den im letzten Jahr viel berichtet wurde, der zum Rücktritt des ehemaligen Frontex-Direktors Fabrice Leggeri führte, der aber bis heute nicht vollständig veröffentlicht wurde – und geheim bleiben sollte.
Vertuschung von Menschenrechtsverletzungen
Bisher hatte nur ein kleiner Kreis von EU-Beamt:innen die Befugnis, den Bericht vollständig zu lesen: Dazu gehören Vertreter:innen der Europäischen Kommission, das ehemalige Frontex-Management-Board, einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments und OLAF-Mitarbeitenden selbst.
Der Bericht wurde im Februar 2022 fertiggestellt. 16 Monate, 20 Zeug:innen und mehr als 120 Seiten, nachdem OLAF zum ersten Mal per Post einen Hinweis auf schwerwiegende Missstände in der Agentur erhalten hatte. Der Bericht dokumentiert auch die Geschichte von Samuel Abraham und zeigt, dass sie kein Einzelfall ist.
Nach EU- und internationalem Recht ist Frontex verpflichtet, bei seinen Einsätzen die Wahrung der Menschenrechte zu garantieren. OLAF stellte jedoch fest, dass Frontex keine Schritte unternahm, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Im Gegenteil wurden immer wieder bewusst Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die stattfindenden Menschenrechtsverletzungen nicht beobachtet, dokumentiert und untersucht wurden.
Der Bericht zeigt, wie die Frontex-Führung die interne Grundrechtsbeauftragte überging, wie interne Berichte über Menschenrechtsverletzungen manipuliert wurden und wie Frontex die Europäische Kommission und das Parlament in die Irre führte.
„Keine von uns“: Ausgrenzung der Grundrechtsbeauftragten
Wie aus dem OLAF-Bericht hervorgeht, trafen sich die höchsten Frontex-Beamt:innen am 3. September 2020, um die Eskalation an der griechisch-türkischen Grenze zu besprechen: Einige der Anwesenden waren überzeugt, dass sich die Situation zu einer „Art Krieg“ entwickeln würden. Die Informationen aus den Frontex-Missionen könnten „missbraucht“ werden und dem Ruf der Agentur schaden – ausgelöst angeblich durch diejenige Frontex-Abteilung, die für die Einhaltung der Grundrechte zuständig ist.
Die Grundrechts-Abteilung wurde geschaffen, um sicherzustellen, dass Menschenrechtsverletzungen bei Frontex-Missionen von vornherein verhindert werden. Wenn es doch zu Verstößen kommt, führen sie Untersuchungen durch und schlagen entsprechende Gegenmaßnahmen vor.
Diese Abteilung und insbesondere ihre Leiterin, die Grundrechtsbeauftragte (FRO), waren intern unbeliebt und wurden abwertend als „Linke“ bezeichnet. In WhatsApp-Nachrichten von Frontex-Bediensteten wurde die rechtskonforme Haltung der FRO als „intellektuelle Diktatur“ bezeichnet und mit dem Terror der „Roten Khmer“ verglichen. Die Frontex-Mitarbeitenden wurden ermutigt, ihre Grundrechtskolleg:innen nicht als Kolleg:innen, sondern als „Externe“ zu betrachten; als „keine von uns“.
Die Leitung von Frontex wollten daher die Informationen, zu denen die FRO Zugang hat, begrenzen – selbst bei Menschenrechtsverletzungen. Bei der Sitzung vom 3. September 2020 hieß es: Das Grundrechtsbüro habe „das Recht Zugang zu allen Informationen zu bekommen. Das heißt jedoch nicht, dass wir ihnen alle geben (...) Wenn sie fragen, dann sind wir freundlich. Das ist die Falle.“
Die Falle war eine Informationssperre, die es der FRO erheblich erschweren und in einigen Fällen unmöglich machen würde, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Die Bemühungen dahingehend hatten jedoch 2016 schon begonnen und waren zum Zeitpunkt der Sitzung vom 3. September 2020 bereits weit fortgeschritten. E-Mails der FRO im Jahr 2016 zu Details im Zusammenhang einer gemeldeten Menschenrechtsverletzung wurden laut OLAF-Bericht „lange oder gar nicht beantwortet“.
Im Januar 2018 beschloss die Frontex-Leitung, den Zugang der FRO zum wichtigsten Grenzüberwachungs- und Informationsmanagement-Tool der Agentur, dem EUROSUR-System, stark einzuschränken. Dies erforderte eine Neugestaltung der IT-Struktur. Von nun an konnte die FRO nur begrenzt Informationen einsehen. Als Verschlusssache eingestufte Informationen waren für sie erst gar nicht sichtbar. Es sollte „unmöglich für FRO werden, über die Existenz spezieller Dokumente im System Bescheid zu wissen“.
Die Adaptionen an EUROSUR haben 15.000 Euro an Steuergelder gekostet. Die Rechtfertigung spiegelt wider, dass die Überwachung der Menschenrechte als Gefahr für eine wirksame Grenzkontrolle angesehen wurde: „Auf dem Spiel steht die Möglichkeit für Mitgliedstaaten, EUROSUR als verlässliches Sicherheitstool zu nutzen“.
Kurze Zeit später kam die Frontex-Führung auf eine neue Idee: Interne Berichte zu schwerwiegenden Vorfällen, die sogenannten Serious Incident Reports (SIRs), sollten als Verschlusssache eingestuft werden.
Kontrolle der Dokumente
Die SIRs sind das Herzstück des internen Meldesystems. Diese Berichte sollen von Frontex-Beamt:innen eingereicht werden, wenn sie während einer Mission Zeug:in oder Teil eines schwerwiegenden Vorfalls werden. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn Frontex-Beamt:innen während ihres Einsatzes einen Autounfall haben; wenn sie aufwachen und feststellen, dass ihr Eigentum mit Anti-Frontex-Botschaften beschmiert wurde; wenn sie an Covid-19 erkranken; aber vor allem, wenn Frontex-Beamt:innen eine Menschenrechtsverletzung bezeugen oder selbst eine begehen.
Die SIR-Berichte sind das wichtigste Dokument der Behörde zur Feststellung von Fehlverhalten. Die Existenz und Verbreitung dieser Berichte ist jedoch für eine Behörde unbequem, die die Achtung der Menschenrechte als Hindernis für ihr eigentliches oberstes Ziel ansieht: die Kontrolle der EU-Außengrenzen.
Der OLAF-Bericht legt die Maßnahmen von Frontex dar, die ergriffen wurden, um die SIR-Meldungen zu umgehen, um so Menschenrechtsverletzungen herunterzuspielen oder zu ignorieren. Im Jahr 2020 wird in einer internen Email geschrieben: „Wenn ein SIR auf Basis von Informationen aus einer Frontex-Mission erstellt wird (...) muss dieser unter Verschluss gehalten werden“. Dies könnte durch die Änderung der Klassifizierung der SIRs möglich gemacht werden. Intern warnten einige, dass dies „illegal“ sein würde.
Es gibt vier Kategorien für SIRs. Berichte über mögliche Menschenrechtsverletzungen sollten der Kategorie 4 zugeordnet werden. Dies umfasst eine sofortige Benachrichtigung sowie eine Untersuchung der Grundrechtsbeauftragten.
An dem Tag, als Samuel Abraham in Seenot geriet, schrieben Frontex-Mitarbeiter eine interne E-Mail. Sie betonten, dass es notwendig wäre, einen SIR über die beobachteten Geschehnisse zu verfassen. OLAF stellt fest, dass basierend auf den Informationen, die vorliegen würden, der Fall auf „stark auf Menschenrechtsverletzungen hinweisen würde“ und somit in Kategorie 4 falle. Frontex-intern wurde dies jedoch abgetan, um so die FRO zu umgehen.
Bei anderen Fällen wurde erst gar kein SIR erstellt. Es scheint, dass in den Augen von Frontex eine Menschenrechtsverletzung, die nicht erfasst wird, auch nicht existiert.
Briefe an griechische Behörden im Zusammenhang mit schwerwiegenden Rechtsverletzungen wurden in eine „politisch schwächere“ Version umformuliert, „weniger deutlich auf die Schwere der fraglichen Tatsachen“. Im April 2020 wurde ein SIR verfasst, nachdem Frontex-Beamt:innen beobachtet hatten, wie griechische Behörden ein „überfülltes Boot in der Nacht auf das offene Meer“ geschleppt haben. Dies könne „das Leben der Passagiere ernsthaft gefährden“.
Der Spiegel hatte Ende Oktober 2020 über diesen Fall berichtet. Die Bewertung des Falles durch die FRO ergab, dass es sich um einen „Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung“ handelt. OLAF konnte jedoch keine Folgemaßnahmen feststellen. Es wurde „kein förmliches Ersuchen um Informationen oder Klarstellungen an die griechischen Behörden im Zusammenhang mit diesem Vorfall gerichtet“. Erneut eine Menschenrechtsverletzung, die nicht aufgeklärt wurde.
Einschüchterung von Beamt:innen: „trägt Früchte“
Aber nicht nur Menschenrechtsverletzungen wurden verschwiegen; auch diejenigen, die sie meldeten, wurden zum Schweigen gebracht. Im Sommer 2019 wurde in einer internen E-Mail gewarnt: „Wir befürchten/haben Hinweise, dass mögliche Menschenrechtsverletzungen nicht immer gemeldet werden aufgrund von möglichen Auswirkungen auf das jeweilige Gastland“. In mindestens einem Fall wurde ein Beamter, der einen SIR verfasste, deshalb versetzt.
Darüber hinaus nutzten Frontex-Beamt:innen für Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen nicht immer offizielle Meldewege, sondern „inoffizielle Berichte“. Ein:e Beamte:r erzählte OLAF: „Es ist in der Vergangenheit passiert, dass die Person, die einen SIR verfasste, später in Konflikt mit griechischen Behörden geriet, was den Aufenthalt (...) unerträglich machte“. Um dies zu vermeiden, habe er sich für eine Meldung „via alternativer Kanäle“ entschieden.
Einschüchterungen und Drohungen gegenüber Frontex-Bediensteten, insbesondere durch griechische Behörden, um die Meldung von Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, waren der Frontex-Leitung offenbar bekannt. Das Thema sei intern „ausführlich diskutiert“ worden, wobei man erkannt habe, dass die „Einschüchterungen der griechischen Behörden, um „kritisches“ Personal zu sanktionieren, Früchte trägt“.
Es wurden nie Maßnahmen ergriffen, um dies zu verhindern. Der Grund: „Um weiterhin eine gute Beziehung zu den griechischen Behörden zu haben“.
„Um nicht Zeuge zu werden…“
Am 5. August 2020 beobachtet das Frontex-Flugzeug FSA METIS in der Ägäis ein Boot mit etwa 30 Personen in griechischen Gewässern, das von griechischen Behörden zurück in das türkische Gebiet geschleppt wurde – eine Menschenrechtsverletzung. Es wurde ein SIR erstellt.
Ein Monat später war das Frontex-Flugzeug nicht mehr in der Ägäis im Einsatz, sondern wurde an das zentrale Mittelmeer versetzt, „um dort Vorgänge zu unterstützen“.
Drei Monate später findet OLAF bei einer Durchsuchung im Frontex-Hauptquartier in Warschau einen Bericht, in dem die Verlegung der FSA METIS erwähnt wird. Auf der letzten Seite des Dokuments findet sich eine handschriftliche Notiz eines hohen Vertreters: „Wir haben die FSA abgezogen, um nicht Zeuge zu werden...“
Im Interview mit OLAF erläutert die Person das so: „Der Abzug der Flugüberwachung hat den Zweck erfüllt, dass Frontex nicht mehr Zeuge von Vorfällen und angeblichen Pushbacks durch Griechenland wird. So wurde vermieden, dass sich die Agentur intern mit heiklen Fällen befassen muss. Für mich persönlich war das eine gute Entscheidung, da ich in der Mitte von zwei unterschiedlichen und gegensätzlichen Positionen stand: [geschwärzt] wollte mögliche Vorfälle der Griechen vertuschen, [geschwärzt] wollte damit nach den internen Richtlinien umgehen“.
Die Entscheidung von Frontex war in der Tat viel mehr als eine Vertuschung von „Vorfällen“. Sie war ein Freibrief für Straffreiheit.
Gegner EU-Kommission
Da interne Kontrollmechanismen ausgeschaltet waren, gab es nur noch wenige Wege, um Frontex zur Rechenschaft zu ziehen – über die EU-Institutionen.
Als sich im Jahr 2020 die Berichte von Medien und NGOs über Frontex häuften, begann die Europäische Kommission, Antworten von der EU-Grenzschutzagentur zu verlangen. Sie wollte wissen, welche Fortschritte zum Schutz der Menschenrechte erzielt worden waren – denn dazu ist Frontex gesetzlich verpflichtet.
OLAF stellte fest, dass Frontex die Kommission bei der Beantwortung ihrer Fragen in die Irre führte, indem die Behörde nur „einen teilweisen Überblick über die Dynamik der Ereignisse“ schilderte und „mangelnde Zusammenarbeit und Bereitschaft“ in Bezug auf die Umsetzung der Änderungsvorschläge der Kommission zeigte.
Die Zusammenarbeit mit der EU-Kommission und die Befolgung ihrer Anweisungen waren in der Tat nicht in den Plänen von Frontex vorgesehen, da die Frontex-Führung intern seit einigen Jahren ein zunehmend abfälliges Bild von der EU-Gesetzgebungsbehörde zeichnete. Sie sah die Kommission weniger als zu respektierende Autorität, sondern eher wie ein Gegner.
In privaten Nachrichten von hohen Frontex-Beamt:innen wird die Europäische Kommission „die Legislative, die Frontex zu einem legalen Schmuggler/Taxi macht“ genannt. Ebenso wird nach der Ernennung von Ylva Johannson zur Kommissarion für Inneres, die EU-Institution folgendermaßen beschrieben: „Amateurhaftigkeit in Bezug auf Einsätze, Obsession für Menschenrechtsthemen und bürokratischer Schwachsinn“.
Bis 2020 war die Kommission endgültig zum Gegner geworden. Intern hieß es: „Die aktuell größte Gefahr für das europäische Militär und Frontex geht von der Kommisison aus“ – eine erstaunliche Schlussfolgerung, da der Vorschlag für 10.000 Grenzschutzbeamt:innen im Jahr 2018 ursprünglich von der Europäischen Kommission selbst stammte.
Aber nicht nur die Fragen der Europäischen Kommission wurden abgelehnt, sondern auch jene des Europäischen Parlaments. Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments (LIBE) lud Frontex mehrfach vor und forderte Erklärungen zu den wiederkehrenden Berichten über Menschenrechtsverletzungen. OLAF stellt fest, dass Frontex in mindestens elf Fällen das Parlament angelogen oder in die Irre geführt hat.
Diese Lügen, irreführenden Erklärungen und antagonistischen Ansichten in Bezug auf die Europäische Kommission und das Parlament wurden von OLAF als „fehlende Loyalität gegenüber der Union“ bezeichnet.
Acht Monate später: die Nachwirkungen des OLAF-Berichts
Seit fast acht Monaten wissen einige EU-Vertreter:innen über die Ergebnisse des Berichts Bescheid: die wiederholten Menschenrechtsverletzungen, die unter den Augen von Frontex stattfanden; die ausgeklügelten Systeme, Verstöße zu vertuschen; ein rechtswidriges System der Straffreiheit, das von einer EU-Agentur aufgebaut wurde, die mit Steuergeldern finanziert wird.
Tatsache ist jedoch, dass sich nur sehr wenig geändert hat. Der Rücktritt des ehemaligen Frontex-Direkots Fabrice Leggeri und die Weigerung des EU-Parlaments, den Frontex-Haushalt anzunehmen, sind die sichtbarsten Folgen. Es scheint ein Klima des Schweigens geschaffen worden zu sein, das für jeden, der den Bericht gelesen hat, unverständlich ist.
Am 21. September 2022 präsentierte Frontex sechs Punkte der „jüngsten Veränderungen innerhalb der Agentur“. Von wirksamen Konsequenzen in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis – also etwa der Aussetzung der Mission nach Artikel 46 der Frontex-Verordnung – ist darin jedoch nicht die Rede. Artikel 46 lautet: „Der Exekutivdirektor von Frontex ist verpflichtet, eine Tätigkeit der Agentur ganz oder teilweise auszusetzen oder zu beenden, wenn er der Auffassung ist, dass im Zusammenhang mit der betreffenden Tätigkeit schwerwiegende oder voraussichtlich anhaltende Verstöße gegen Grundrechte oder internationale Schutzverpflichtungen vorliegen.“
Das es jedoch zu solchen Verstößen nach Artikel 46 gekommen ist, wird im OLAF-Bericht nicht nur belegt, sondern auch benannt: Frontex „hat keine angemessenen Folgemaßnahmen sichergestellt, einschließlich der Ergreifung von Maßnahmen in Bezug auf den Anwendungsbereich von Artikel 46 der FRONTEX-Verordnung“.
Frontex widerspricht weiterhin den Ergebnissen von OLAF und behauptet: „Die Maßnahmen von Frontex in der Ägäis-Region wurden im Einklang mit dem geltenden Rechtsrahmen durchgeführt, einschließlich der sich aus den Grundrechten ergebenden Verantwortlichkeiten“.
Gleichzeitig gibt es Anzeichen, dass einige der „jüngsten Veränderungen“ nichts ändern. Frontex argumentiert, dass sie im Jahr 2021 eine Überarbeitung ihres Meldeverfahrens durchgeführt hat, um „die Berichterstattung über Ereignisse an den Außengrenzen zu verbessern, einschließlich Grundrechtsverletzungen“. Zivilgesellschaftliche Organisationen weisen darauf hin, dass mehr als 1.000 Tage vergangen sein könnten, seit Frontex das letzte Mal einen SIR auf der griechischen Insel Samos verfasst hat. Wie im OLAF-Bericht dokumentiert, war es gerade Samos, wo die Einschüchterungstaktik der griechischen Behörden „Früchte trägt“.
Wir haben Frontex um eine Stellungnahme zum OLAF-Bericht und seinen Ergebnissen gebeten, jedoch haben sie dazu nicht geantwortet.
Kommission handelt nicht
Bemerkenswert ist die Zurückhaltung der Europäischen Kommission, die weder mit Maßnahmen reagiert, noch sich dazu äußert. Auf die Frage nach der vorangegangenen Berichterstattung des Spiegels über die Erkenntnisse von OLAF verwies die Kommission lediglich auf den Wechsel in der Frontex-Führung, einen „neuen Aktionsplan" für eine Grundrechtsstrategie und die Neueinstellung von Grundrechtsbeobachter:innen – wozu Frontex seit 2019 eigentlich rechtlich verpflichtet ist. „Es wurde viel getan", erklärte der Sprecher der Kommission, der keine Einzelheiten nannte und Artikel 46 nicht erwähnte.
Insgesamt zeigt der OLAF-Bericht, dass Frontex ein System der Straflosigkeit aufgebaut hat: Die EU-Agentur versucht fortwährend, schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht an den EU-Grenzen herunterzuspielen, zu vertuschen und zu ermöglichen. Dieses System bleibt weitgehend unangetastet.
Der OLAF-Bericht von Frontex wurde acht Monate lang streng vertraulich behandelt, bis er an FragDenStaat, Der Spiegel und Lighthouse Reports geleaked wurde. Wir haben den Bericht neu aufbereitet, um die Quelle zu schützen. Er entspricht dem Original – die Größe der Schwärzungen unterscheiden sich jedoch.
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→ zum gesamten OLAF report zu Frontex
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