Ich stehe auf einem Feld in Slowenien, einem Land, von dem ich bislang kaum etwas gehört habe. Ich bin Fernsehjournalistin. Für das ARD-Magazin Panorama (hier der Beitrag) will ich mit Flüchtlingen sprechen, die sich auf der Flucht durch den Balkan befinden. Hier, an einem kleinen Fluss direkt vor einem Maisfeld, wo sich bis auf einen Traktor in der Ferne nichts regt, sollen sie gleich vorbeiziehen.
Und dann kommen sie. Angeführt von zwei Polizeipferden, zieht dieKarawane von rund 2.000 Menschen, die aus Kroatien kommen, den schmalen Weg entlang. Eine nicht enden wollende Schlange. Zu ihren Seiten bewaffnete Soldaten. Sobald ein Mensch ausschert, wird er zurückgewunken. Ich reihe mich ein. Alle sind bepackt mit Taschen und Tüten, eingehüllt in Decken, Kinder tragen sie wie Bündel auf dem Arm.
Es geht durch das Maisfeld. "Eine Stunde Pause", schreit ein Polizist. Sie lassen sich nieder. Kinder turnen im Gras, einige dösen, eine junge Frau singt fröhlich. Ich setze mich zu ihnen. Sie sind erschöpft, doch die Stimmung ist gut. Es herrscht Zuversicht. Ein genaues Ziel haben die meisten nicht, Hauptsache Europa, sagen sie. Sicherheit, das ist das, wonach sie suchen. Ein libanesischer Mann stellt mir seinen autistischen Sohn vor. Er will nach Deutschland, sagt der Vater, denn dort würden Autisten gefördert. Ein anderer Mann kommt mit seinem Sohn auf mich zu. Der sei 13 und solle auf eine gute Schule kommen. Ob ich ihnen Schweden oder Deutschland empfehlen würde?
"Go, go", ruft der Polizist. Weiter geht es unter einer Brücke hindurch, hoch auf einen Deich. Ein Helikopter fliegt über unseren Köpfen. Die Kinder schreien, sie kommen gerade aus dem Krieg. "Gleich sind wir da, mein Schatz", sagt ein Vater und wirft sich sein Kind über die Schulter. Links neben uns glitzert der Fluss friedlich.
"Wie Vieh treiben sie uns durch die Felder", sage ein Mann, der eine dicke Filzdecke über seiner Schulter trägt. "Weißt du denn, wohin es geht?", frage ich ihn. "Nein, ich hoffe nur, dass etwas Gutes vor uns liegt" sagt er. "Wenn es aber eine Mauer aus Feuer wäre", fügt er hinzu, "so würden wir hineinspringen." Denn hinter ihnen sei nichts mehr geblieben.
Plötzlich entsteht ein lautes Stimmengewirr. Man hört Pfiffe und Schreie. Ich klettere schnell links den Deich hinunter. "Was ist los?", frage ich einen jungen Mann, der mir vor ein paar Stunden erzählt hat, dass er Schwimmer sei und in Deutschland Sportlehrer werden wolle. "Das war's", sagt er, "ich kehre um. Die Flüchtlinge im Camp sagen, dass wir auf gar keinen Fall hineingehen sollen." Ich vernehme die lauten Sprechchöre. Auf der anderen Seite des Deiches muss sich das Camp befinden. "Warum?" "Es muss grauenvoll sein. Ich gehe da auf gar keinen Fall rein!"
Ich klettere den Deich hinauf und versuche zu erkennen, was auf der anderen Seite passiert. Und da sehe ich sie: Hunderte von Flüchtlingen stehen eingepfercht in einem Gehege. "Kehrt um!", schreien sie den Neuankömmlingen zu. Seit vier Tagen seien sie dort eingesperrt, ohne Verpflegung, ohne Schlafmöglichkeiten. Kinder seien gestorben.
Nun verstehe ich die Verunsicherung. Viele sind den Deich heruntergestiegen, keiner scheint zu verstehen, was vor sich geht.
Die Situation spitzt sich zu. "Wir verlangen nach dem Roten Kreuz", rufen einige Männer. Andere versuchen, die Karawane zur Umkehr zu drängen. Doch innerhalb weniger Minuten hat die slowenische Polizei hinter ihnen eine Mauer gebildet. Polizisten mit Gewehren, Schlagstöcken, maskiert, blockieren den Weg. Die Flüchtlinge sind eingeschlossen. Zwischen Deich und Fluss, zwischen Camp und Polizei. Und ich mittendrin.
Ich spüre die Spannung in der Luft. Wo könnte ich hinrennen? Es gibt keinen Fluchtweg, ich werde nervös. Ich greife nach meinem Pass in der Jackentasche und bewege mich auf die Polizeimauer zu. "Ich bin Journalistin aus Deutschland", rufe ich. "Wie haben Sie die Grenze überquert?", kommt es zurück. "Ich bin einfach mit den Menschen mitmarschiert." "Sprechen Sie Arabisch?", fragt einer hinter seiner Maske. Er sei der Polizeichef. Ich nicke. "Sagen Sie den Leuten, dass sie in das Camp gehen sollen."
Die Reporterin soll entscheiden
Ich drehe mich um. Inzwischen haben sich auch die Flüchtlinge aufgestellt. Zwischen ihnen und den Polizisten sind nur ein paar Meter. Zwei Fronten, und ich in der Mitte. Die Flüchtlinge blicken mich erwartungsvoll an. "Die Polizei sagt, ihr sollt ins Camp gehen", rufe ich und ernte empörte Reaktionen. Sie werden dort nicht hineingehen, schreien sie durcheinander, um keinen Preis der Welt.
"Was sagen die?", fragt der Polizist von hinten. Ich laufe zurück. "Sie sagen, im Camp seien die Menschen seit Tagen nicht versorgt worden. Sie haben Angst." "Das ist eine Lüge", erwidert der Polizist. Er versichert mir, im Lager stünde Essen und Trinken bereit. Die Menschen drinnen seien erst seit kurzer Zeit da. Es seien nur einige wenige, die immer wieder Probleme machten, Zelte anzündeten, Polizisten attackierten.
Wieder drehe ich mich um, muss überlegen, wie ich die Worte des Polizisten filtern kann. Denn überzeugt bin ich von seinen Worten nicht.
Die Flüchtlinge sind in Panik. Einige gehen auf mich zu. Ohne nachzudenken, schreie ich sie an: "Setzt euch sofort hin! Wollt ihr, dass es eskaliert? Hier sind überall Kinder, wenn es eskaliert, wird es gefährlich!" "Hört auf die Journalistin, sie hat recht", schreien einige.
Ich bin in eine seltsame Rolle geraten. Die Menschen schauen mich erwartungsvoll an. Ich, die Reporterin, soll entscheiden, was zu tun ist. Aber ich weiß es nicht. Habe keine Ahnung, was sie auf der anderen Seite erwartet. Würde ich selbst dort hineingehen?
So geht das eine Stunde lang weiter. Die Polizei bekräftigt, die Situation im Camp sei gut. Die Flüchtlinge müssten dort rein,
sich registrieren lassen. In wenigen Stunden würden sie dann schon auf dem Weg nach Österreich sein. Doch die Flüchtlinge davon zu überzeugen, ist unmöglich. Sie haben Angst. Sie sind
entschlossen, umzukehren, und es kostet mich viel Kraft, sie daran zu hindern.
"Sind wir hier in Guantanamo?"
Lange werde ich das nicht mehr schaffen, das spüre ich. Die Flüchtlinge verlangen nach dem Roten Kreuz. "Wie sollen wir diesem Land vertrauen, das uns mit Militär und maskierten Polizisten begleitet?", rufen sie. Nicht einmal in Mazedonien und Serbien sei man ihnen so begegnet. "Sind wir hier in Guantanamo?"
Ich spreche mit dem Polizeichef. "Hören Sie", sage ich, "bitte bringen Sie sofort jemandem vom Roten Kreuz!" Die Augen des Polizeichefs wirken hilflos. Ich spüre, dass ich unerwartet in eine Machtposition geraten bin. Eigentlich darf ich hier nicht sein. Aber nun werde ich gebraucht.
Der Polizist telefoniert. Doch alles dauert zu lang. Die Flüchtlinge werden ungeduldig. Mittlerweile ist es dunkel geworden und bitterkalt. Immer noch sind die Menschen eingekesselt, sie haben begonnen, kleine Feuer zu entzünden. Ich bin beeindruckt von ihrer Standhaftigkeit.
Nach etwa einer Stunde hat die Polizei keinen Vertreter des Roten Kreuzes auftreiben können. "Geh du ins Camp und schau es dir an!", rufen die Flüchtlinge. "Wir vertrauen nur dir."
"Bringen Sie mich ins Camp", sage ich zum Polizeichef. Wenn doch alles vorbereitet sei, dann solle er es mir zeigen. "Okay", sagt er schließlich. Es geht auf die andere Seite des Deiches. Er reicht mir die Hand und hilft mir hinauf.
"Du musst uns helfen!", schreien mir einige Flüchtlinge hinterher. "Unsere Kinder werden erfrieren", rufen andere und halten ihre Babys in die Luft.
"Ich verstehe nicht, wovor ihr Angst habt", rufe ich zurück. "Ihr seid dem Krieg entronnen, ihr seid Tausende Kilometer durch den Balkan marschiert. Nun seid ihr in Europa, ihr habt es doch geschafft." "Wie sollen wir in dieser Situation keine Angst haben?", schreit eine junge Frau. "Hast du nicht gehört, was die im Camp uns zugerufen haben?"
Eine Sandsteppe als Lager
Mittlerweile haben sich unter den Flüchtlingen Wortführer herauskristallisiert. "Ihr Journalisten, ihr könnt nur fotografieren und filmen", ruft einer. "Und wenn wir sterben, haltet ihr noch drauf." Ich verachte mich selbst. "Hör zu", ruft einer nach oben. "Kennst du das Bild von der ungarischen Journalistin, die dem syrischen Vater ein Bein gestellt hat?" Ich nicke. "Wenn du uns jetzt nicht hilfst, dann bist du keinen Deut besser als sie. Und wenn unsere Kinder heute Nacht hier erfrieren, dann bist du dafür mitverantwortlich!"
Mit dem Polizeichef gehe ich auf der anderen Seite des Deiches hinunter. Und dann sehe ich das sogenannte Camp: eine schwarze Sandsteppe. Darauf sorgfältig aufgebaute Gehege. In einigen Bereichen vegetieren Menschen vor sich hin. Hängen am Zaun, kauern auf dem Boden. Der Himmel ist schwarz, Flutlicht hüllt die Szene in grelles Licht, über allem eine riesige Rauchwolke. Ein martialisches Bild mitten in Europa.
Wir gehen durch das Gehege. Ich erwarte, dass der Polizeichef mich in ein Zelt oder ein Gebäude führen wird, mir die Verpflegung und die Schlafmöglichkeiten zeigen. Doch er bleibt stehen. Ich schaue ihn an. "Wo sollen die Menschen denn nun hin?", frage ich ihn. Stille. Ein Blick nach unten. "Hier?" Er nickt. Und wo schlafen sie? Er nickt. Und die Kinder? Er nickt. Stille. Ich bilde mir ein, dass seine Augen glasig werden. Einige Flüchtlinge, die uns gefolgt sind, schauen mich erwartungsvoll an. Ich halte Blickkontakt mit einem bärtigen Mann, er hält zwei Kinder an den Händen. Ich will etwas sagen, doch die Worte fehlen mir. "Es tut mir Leid", sage ich schließlich, "doch das hier ist das Camp. Hier wirst du auf dem Boden schlafen. Auch deine Kinder. Ich habe das nicht gewusst." Er blickt freundlich. "Das macht uns nichts", sagt er, "aber bitte, gibt es wenigstens Decken für unsere Kleinen?" Erwartungslos blicke ich zum Polizeichef. Er schüttelt den Kopf. Decken gibt es nicht. Und Essen und Trinken? Das gibt es, sagt er energisch. Und wann? Das wisse er nicht. Gesenkter Blick.
Eine Kapitulation und Offenbarung
In diesem Moment bleibt die Zeit stehen. Es ist eine Kapitulation. Eine Offenbarung. Das ist das, was den Menschen hier
geboten wird. Ein Außengehege in bitterer Kälte. Sie hatten mich benutzen wollen, um die Menschen in diese Hölle zu locken. Doch nun liegt die Wahrheit auf dem Tisch. Und ich will mich in
Luft auflösen. Denn auf der anderen Seite warten 2.000 Menschen darauf, dass ich ihnen sage, was sie tun sollen.
"Wir können nichts dafür", sagt der Polizeichef. "Das ist alles, was wir geben können. Wir haben heute 5.000 erwartet. Doch gekommen sind 15.000."
Zwei junge Syrer rennen hinter mir her. "Bitte, wir beschweren uns nicht, wir schlafen draußen, das haben wir ohnehin seit Wochen getan. Aber bitte, dürfen wir ein wenig Laub sammeln, um unsere Kinder darauf zu betten?"
"Du musst hier raus", sagt der Polizeichef. Wir verlassen das Camp, rauf auf den Deich. Dort warten die Flüchtlinge. Die Journalistin ist zurück, rufen sie. Einige haben bereits ihre Taschen geschultert, sind bereit, ins Camp zu gehen, warten nur noch auf meine Bestätigung. Ich drücke mich, will nichts sagen.
Ein Mitarbeiter vom UN-Flüchtlingswerk ist mittlerweile gekommen und versucht, die Leute zum Einlenken zu überreden. Erfolglos. Ich ziehe ihn zur Seite. "Was ist hier los?", schreie ich. "Ihr seid die Vereinten Nationen. Was ist hier los?"
"Bist du hier, um Probleme zu machen?", schreit er zurück. "Du sprichst Arabisch, es ist deine Aufgabe, die Menschen in das Camp zu bewegen. Es liegt in deinen Händen, sag den Leuten, was sie zu tun haben!" Er weicht meinem Blick aus. "Erwartest du von mir, dass ich die Menschen in diese Hölle locke? Seid ihr nicht dafür verantwortlich, diese Menschen zu versorgen?" Ich gehe zum Polizeichef. "Bitte", flehe ich, "lass doch die Menschen hier. Hier gibt es wenigstens Gras, Bäume. Bringt ihnen Wasser für die Kinder und lasst sie hier." "Das geht nicht", sagt er. "Wenn sie nicht freiwillig gehen, werden wir sie mit Gewalt ins Camp befördern."
Die UN reagieren hilflos
Ich atme tief durch. Die Flüchtlinge warten auf meine Ansage: "Was empfiehlst du uns? Sollen wir hineingehen, oder nicht?" Stille. "Die Wahrheit ist, dort drinnen ist es nicht besser als hier", sage ich schließlich. "Es ist schrecklich. Es tut mir Leid."
Noch nie habe ich mich so hilflos gefühlt. Wir sind mitten in Europa. Ich bin der Hoffnungsschimmer dieser Menschen, denn sie sind eingeschlossen, und ich bin frei. Frei und handlungsunfähig.
Ich beschließe, zu gehen: meine Kollegen treffen, die Handys aufladen, Hilfe organisieren. Hier kann ich nichts mehr tun.
Ein Mann mit einem Säugling rennt auf mich zu. "Bitte, kannst du uns heißes Wasser für unser Kind mitbringen?" Seine Frau rennt zurück und bringt mir eine silberne Thermoskanne. "Fühl mal die Füße meines Kindes. Eiskalt sind sie."
Ich nehme die Thermoskanne und gehe. Blicke nicht mehr zurück, schäme mich. Mein Kollege zieht mich in eine Kneipe zum Aufwärmen. Ich stehe neben mir. Hier sitzen Menschen und trinken Bier. Und nur wenige Hundert Meter entfernt haben Eltern Feuer entzündet, um ihre Kinder vor dem Erfrieren zu retten. Die Flüchtlingskrise ist tatsächlich mitten in Europa angekommen.
Ich rufe den Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks für Zentraleuropa an. Gestern erst habe ich ihn interviewt, vor eben diesem Camp. "Babar", sage ich, "Ihr müsst etwas unternehmen. Es ist der blanke Horror." "Das weiß ich", sagt er. "Ich werde tun, was ich kann." Eine halbe Stunde später meldet er sich zurück. Seine Kollegen würden in einer halben Stunde Decken schicken. Und wenn ich nicht angerufen hätte?
Nach einer Stunde will ich zurück zum Camp, Aufnahmen machen, die Situation dokumentierten. Wenn ich als Journalistin eine Macht habe, dann ist die der Bilder.
Doch als wir zurückkommen, hat sich die Situation bereits geändert. Die Polizei hat die Flüchtlinge mit Tränengas in das Camp getrieben. Nun sind sie eingepfercht. Maskierte Helfer ziehen kollabierte Frauen aus dem Gehege. Andere werfen Wasserflaschen in die Menge. Ein Soldat schlägt mit seinem Schlagstock auf das Geländer. Irgendwo da drinnen der kleine autistische Junge. Ich kann nicht mehr zu diesen Menschen zurück. In meinem Arm halte ich die Thermoskanne mit dem heißen Wasser für das Baby.
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