ECPAT = End Child Prostitution, Pornography and Trafficking of Children for Sexual Purposes
(engl.: Beendet Kinderprostitution, Kinderpornografie und den Kinderhandel zu sexuellen Zwecken).
Der Auftrag von ECPAT besteht darin, der sexuellen Ausbeutung von Kindern ein Ende zu setzen. Wir betrachten dieses Problem in all seinen Facetten, einschließlich der sexuellen Ausbeutung von Kindern durch Prostitution; Handel; Früh- und Zwangsverheiratung von Kindern, online und im Kontext von Reisen und Tourismus. Wir arbeiten daran, das Problem durch Forschung besser zu verstehen und drängen gleichzeitig auf die entscheidenden systemischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die notwendig sind, um die sexuelle Ausbeutung von Kindern mit Regierungen, zwischenstaatlichen Institutionen, dem Privatsektor, der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit, einschließlich der Kinder selbst, zu beenden.
Von Gewalt gegen Kinder, einschließlich sexueller Ausbeutung und Missbrauch, sind weltweit schätzungsweise eine Milliarde Kinder betroffen, und die Untersuchungen von ECPAT kamen zu dem Schluss, dass kein Land und keine Region „immun“ ist. Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein wachsendes und zunehmend komplexes Verbrechen. Es passiert Kindern aller sozioökonomischen Gruppen, aller Bildungsniveaus, aller ethnischen und kulturellen Gruppen und in jeder geografischen Region.
Um diese Verbrechen zu beenden, müssen Wissen und Beweise von höchster Qualität sein, um unsere Entscheidungen zu beeinflussen und gezielte Maßnahmen und Aktivitäten zu leiten. ECPAT führt weiterhin Primärforschung durch und führt Informationen aus verschiedenen Sektoren und Ländern auf der ganzen Welt zusammen, um ein zuverlässiges und professionelles Angebot an akademischen Quellen zu schaffen.
ECPAT bietet außerdem Informationen für Kinder, damit diese ihre Rechte, Zugang zur Justiz erhalten und medizinische, psychologische und soziale Unterstützungsdienste finden, falls sie von sexueller Ausbeutung und Missbrauch betroffen sind . Wir bringen erwachsene Überlebende sexuellen Missbrauchs und Ausbeutung von Kindern zusammen, um als globale Gemeinschaft von Fürsprechern gemeinsam an der Heilung zu arbeiten.
Geflüchtete Kinder und Jugendliche, die sich allein auf den Weg machen bzw. von ihren Eltern getrennt wurden, sind besonders gefährdet, Opfer von Gewalt, Übergriffen sowie Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Dies betrifft sowohl die Reise selbst, wie auch den Aufenthalt nach der Ankunft.
Die Gründe, den gewöhnlichen Wohnsitz zu verlassen, sind meist Krieg, bewaffnete Konflikte, Krisen und Gewalt, vor Unsicherheit in fragilen Staaten, Armut und Perspektivlosigkeit, Notsituationen und Naturkatastrophen, politischer Verfolgung oder Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe. Die allgegenwärtige sexuelle Gewalt in Kriegs- und Konfliktgebieten und in fragilen Staaten hat als Fluchtursache eine hohe Bedeutung. Kinder und Jugendliche sind zudem von kinderspezifischen Fluchtursachen betroffen. Dazu gehören unter anderem Erfahrungen oder Androhung von sexueller Gewalt, Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung, Ausbeutung jeglicher Art, einschließlich Kinderarbeit, Kinderhandel oder Sklaverei, sexuelle Ausbeutung oder Ausbeutung im militärischen Bereich.
In einem Beitrag für den Rundbrief „Perspektive 3/2020 “ des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg bearbeitet ECPAT Deutschland die Situation minderjähriger Geflüchtete als Betroffene von Menschenhandel. Gewalt und sexuelle Ausbeutung sind als Fluchtursache und auf der Flucht so weit verbreitet, dass bei der Aufnahme von schutzsuchenden Kindern in Deutschland grundsätzlich von Gewalterfahrungen und konkreten Bedrohungen ausgegangen werden kann. Minderjährige Betroffene von Menschenhandel werden aber häufig nicht erkannt und erhalten so auch keinen Zugang zu spezifischer Hilfe.
Die Risikoanalyse der Kinderrechtsexpertin Daja Wenke im Auftrag von ECPAT verdeutlicht, dass sexuelle Gewalt und Ausbeutung, Bedrohungen und Angst für geflüchtete Kinder ein ständiger Begleiter sind. Oftmals sind Ausbeutung und Menschenhandel Ursache für die Flucht. Sie verweist auf die allgegenwärtige Gewalt und Ausbeutung in Kriegs- und Konfliktgebieten sowie in fragilen Staaten und bezeichnet sexuelle Gewalt als eine kinderspezifische Fluchtursache.
ECPAT Deutschland (2018) Risikoanalyse – 2015-2016 „Kinder auf der Flucht“ Risiken sexueller Gewalt für geflüchtete Kinder und Schutzbedarfe – Eine Bestandsaufnahme, Autorin: Daja Wenke
ECPAT hat auf Grundlage dieser Risikoanalyse Handlungsempfehlungen erarbeitet, die nach unserer fachlichen Einschätzung grundlegend sind, um den betroffenen Kindern Schutz und Unterstützung zukommen zu lassen.
ECPAT Deutschland (2018) Handlungsempfehlungen (PDF-Datei) für Schutzmaßnahmen für geflüchtete Kinder angesichts der Risiken für sexuelle Gewalt.
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Nach word umgewandelte PDF-Datei:
Handlungsempfehlungen für
Schutzmaßnahmen für geflüchtete Kinder angesichts der Risiken für sexuelle Gewalt
Impressum
Autorin: Daja Wenke, Forschung und Politische Beratung - Kinderrechte, dajawenke@gmail.com
Redaktion: Dr. Dorothea Czarnecki, Mechtild Maurer, Marilena Müller, Jana Schrempp
Herausgeber: ECPAT Deutschland e.V.
Freiburg, Dezember 2018
Copyright © 2018 ECPAT Deutschland e. V., Alfred-Döblin-Platz 1, 79100 Freiburg V. i. S. d. P.: Mechtild Maurer, ECPAT Deutschland
Risiken sexueller Gewalt in Deutschland
ECPAT Deutschland e.V. hat die umfassende Bestandsaufnahme von 2015 - 2016 und deren Aktualisierung in 2017 von Daja Wenke zum Thema Kinder auf der Flucht und deren Gefährdung für sexuelle Gewalt zum Anlass genommen, Handlungsempfehlungen zu formulieren. ECPAT sah angesichts der großen Schutzlücken für die geflüchteten Kinder die Notwendigkeit Schutzmaßnahmen zu verbesseren sowohl auf der konkreten als auch auf der strukturellen Ebene.
Da die Risiken bereits im Heimatland der geflüchteten Kinder und auf dem Fluchtweg bestehen, werden diese Erfahrungen in den Handlungsempfehlungen berücksichtigt. Denn wie die Bestandsaufnahmen von 2015 - 2016 klar zeigten, haben der größte Teil der Kinder auf der Flucht bereits Gewalt und sexuelle Gewalt erfahren. Sexuelle Gewalt, Bedrohungen und Angst sind für geflüchtete Kinder ein ständiger Begleiter.
ECPAT Deutschland setzt sich dafür ein, dass bei der Einreise in die EU und nach Deutschland die Rechte eines jeden Kindes unter 18 Jahren gemäß der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, der EU Charta und den entsprechenden Gesetzen auf EU- und Bundesebene vollumfänglich geschützt sind. Da jedoch viele Rechtsgebiete und Stukturen dabei berührt werden, gibt es vielfältige Schutzlücken in der Praxis, die mitunter nicht in den Fokus genommen werden, wenn für geflüchtete Kinder in Deutschland verbesserte Schutzmaßnahmen geplant oder eingeführt werden. Darauf begründet unsere Herangehensweise für die Zusammenstellung der vorliegenden Handlungsempfehlungen.
ECPAT Deutschland bezieht sich bei seinen Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen auf die 2018 in überarbeiteter Fassung vorliegende „Risikoanalyse 2015 – 2016 ‚Kinder auf der Flucht‘ - Risiken sexueller Gewalt für geflüchtete Kinder und Schutzbedarfe - Eine Bestandsaufnahme.“
Wir danken Daja Wenke, die als Autorin uns dabei hervorragend unterstützt hat.
Analyse der Risiken
Im Jahr 2015 wurde das europäische Asylsystem auf eine schwierige Probe gestellt. Angesichts der sehr hohen Anzahl von Menschen, die in Europa und insbesondere in Deutschland Zuflucht vor Krieg, Terror und anderen Bedrohungen suchten, wurden von vielen Seiten Forderungen erhoben, die Grenzen zu schließen und Obergrenzen für die Aufnahme von Geflüchteten einzuführen. An EU Außengrenzen errichteten Mitgliedsstaaten Grenzzäune, verschärften die Grenzkontrollen und die Zurückweisung von Geflüchteten und richteten Zentren für deren Internierung ein. In diesen schwierigen Zeiten hat die Bundesregierung das Menschenrecht auf Asyl aufrechterhalten und es gegen zahlreiche Widerstände verteidigt.
In Anbetracht der hohen Anzahl der Menschen, die in Deutschland Sicherheit, Überleben und neue Perspektiven suchten, liegen die enormen Herausforderungen für die Aufnahmegesellschaft und die staatlichen Strukturen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene auf der Hand. Der unbeirrte Einsatz von politischen Entscheidungsträgern, Mitarbeiter_innen in Behörden auf allen Ebenen, Fachkräften,
Dienstleistern, Ehrenamtlichen und Freiwilligen war und bleibt ausschlaggebend, um diese Situation zu meistern. Es liegt auch auf der Hand, dass die bestehenden Strukturen durch die vielen neuangekommenen Menschen gefordert und zum Teil überfordert werden, dass neue Wege eingeschlagen werden und Lösungsansätze für Problematiken gefunden werden müssen, die sich zuvor nicht in diesem Ausmaß gestellt haben.
Die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen in Deutschland haben sich diesen Herausforderungen gestellt. Sie haben vieles gemeistert, viele Schwierigkeiten benannt, Lücken aufgezeigt und innovative Ansätze entwickelt, um ihnen zu begegnen. Gleichzeitig haben die neuen Dimensionen der Anforderungen an den Kindesschutz, die Kinder- und Jugendhilfe und die Unterstützung für Familien dazu geführt, dass bestehende strukturelle Schwächen erneut zum Ausdruck gekommen sind. Vor diesem Hintergrund zieht die Risikoanalyse Schlussfolgerungen, die darauf ausgerichtet sind, die bestehenden Maßnahmen und Initiativen weiter zu befördern und einige Anpassungen vorzuschlagen, um die Risiken geflüchteter Kinder in Bezug auf sexuelle Gewalt zu vermindern und ihre Resilienz zu befördern, sowohl in der Bundesrepublik, im europäischen Kontext als auch in der Zusammenarbeit mit Herkunftsregionen.
Aufgrund des internationalen und europäischen rechtlichen Rahmenwerkes, das in Deutschland in Kraft ist, und der entsprechenden Gesetzeslage auf Bundesebene kann davon ausgegangen werden, dass grundsätzlich ein ausreichender und guter Handlungsspielraum zur rechtlichen Sicherung der Kinderrechte vorliegt.1 Analysen im Bereich des Kinderschutzes in Europa und in Deutschland zeigen auf, dass weniger die rechtlichen Standards als vielmehr ihre Anwendung und effektive Umsetzung in der Praxis Schwierigkeiten bereiten. Diese Erkenntnis wurde durch eine Literaturrecherche und Expertisengespräche, speziell für den Schutz geflüchteter Kinder vor sexueller Gewalt in Deutschland klar bestätigt.2
In Deutschland wie auch in anderen EU Mitgliedsländern ist die rechtliche Situation von geflüchteten Kindern geprägt von einer Überschneidung zahlreicher Gesetze, Regelungen, Dienstleistungen und Hilfsangeboten mit stark fragmentierten Zuständigkeiten unterschiedlicher Behörden und privater Träger. Aufgrund des ungeregelten Aufenthaltsstatus vieler geflüchteter Kinder werden Fragen des Aufenthalts-und Asylverfahrensrechts oft vorrangig behandelt. Gleichzeitig fallen die Kinder jedoch in den Zuständigkeitsbereich der Jugendämter. Zahlreiche andere Akteure, wie die Träger der Unterbringung, Jugendhilfe, Vormünder, Familienrichter_innen und eventuell Strafverfolgungsbehörden sind ebenfalls involviert. Diese Überschneidungen von Gesetzen, Zuständigkeiten und institutionellen Interessen resultieren in potentiellen oder tatsächlichen Widersprüchen und Schutzlücken, in denen die Rechte der Kinder und ihre Interessen und Bedürfnisse nicht immer gewahrt werden. Aus dieser komplexen Situation ergeben sich zum Teil rechtliche Unklarheiten, und die verschiedenen Gesetze und Regelungen werden nicht immer konsistent umgesetzt und angewendet. Die mangelnde politische und rechtliche Kohärenz zwischen Ausländer- und Asylrecht, Kinderrechten, Kinderschutz und Jugendhilfe bewirkt in der Praxis
1 Am 30. Juni 2017 hat der Deutsche Bundestag den Gesetzentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen mit wichtigen Verbesserungen im Kinderschutz angenommen. Die Bundesregierung erklärt, dass das neue Gesetz Ziele des Koalitionsvertrages, der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes und des Gesamtkonzepts des Bundesfamilienministeriums für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt umsetzt. Das neue Gesetz sieht auch Regelungen vor, um Kinder und Frauen in Flüchtlingsunterkünften besser vor Gewalt zu schützen. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmisbrauchs, Gemeinsame Pressemitteilung Nr. 79 vom 30. Juni 2017.
2 Expertisengespräch mit terre des hommes Deutschland, 6. Juli 2016. Expertisengespräch mit Professorin Anja Teubert, Duale Hochschule Baden-Württemberg, Fakultät für Sozialwesen, Grauzone e.V., 8. August 2016. Expertisengespräch mit dem Regierungspräsidium Freiburg, 15. August 2016.
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zahlreiche Ungleichbehandlungen. In manchen Situationen kann dies zu einer Aushebelung des Rechtes auf Nichtdiskriminierung führen.3
Um diesen Herausforderungen zu begegnen sind verstärkte Investitionen in die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Koordinierung auf allen Ebenen notwendig. Gezielte Maßnahmen können dazu beitragen, die komplexe Gesetzeslage und institutionelle Zuständigkeiten zu klären, und bestehende Schutzlücken zu schließen. Zudem eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, Behörden und Fachkräfte zu entlasten und die Verwaltungsstrukturen effizienter zu gestalten.
Trotz der stark ausgeprägten dezentralen Strukturen, gibt es weder ein umfassendes bundesweites Monitoring noch kindgerechte und zugängliche Beschwerdestellen. Der tatsächliche Stand und die Qualität der Umsetzung der Kinderrechte für geflüchtete Kinder in der Bundesrepublik bleibt somit ein Dunkelfeld, das durch systematischere Koordinierung, Begleitung und Analyse erhellt werden muss. Das große Engagement und die Erfolge einzelner Kommunen, Institutionen, Organisationen und Fachkräfte, geflüchtete Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, ihre Entwicklung und soziale Integration zu befördern, kommt aus diesem Grund bisher bundesweit kaum zur Geltung.
Aufgrund der hohen Zugangszahlen von Asylbewerber_innen in den vergangenen Jahren ist die Kontinuität, Stabilität und Qualitätssicherung im Kinder- und Jugendschutz nicht gewährleistet. Diese Situation verlangt ein Umdenken, um Verwaltungsstrukturen, föderale Strukturen und Umsetzungsmaßnahmen kosteneffizienter und effektiver zu gestalten. Beispiele von Analysen und Modellen, die diesen Prozess in Deutschland konkret informieren und inspirieren können, liegen aus der europäischen Debatte vor und werden in diesem Bericht aufgegriffen und besprochen. Dazu gehören Kosteneffizienzstudien, Standards für die Vormundschaft, rechtliche Klärung des Kindeswohlbegriffs, standardisierte Verfahren zur Kindeswohlbestimmung, kindgerechte Anhörung und vom Kind her gedachte Modelle wie das Barnahus, um den Zugang von Gewalt betroffener Kinder zu Recht und Gerichten zu erleichtern.
Aufgrund der weitreichenden Dezentralisierung im föderalen System sind die bestehenden rechtlichen und politischen Maßnahmen bezüglich geflüchteter Kinder und deren Umsetzung in der Praxis stark fragmentiert. Viele einzelne Initiativen, Programme und Projekte werden auf Bundes- und Länderebene und in den Kommunen entwickelt und erzielen bemerkenswerte Erfolge, werden jedoch nicht flächendeckend angeboten oder verstetigt. Standardisierte Verfahren und Qualitätsstandards sind zwar in verschiedenen Bereichen entwickelt worden, werden derzeit jedoch nicht bundesweit befördert. Insbesondere die fehlenden standardisierten Verfahren zur Identifikation und Weiterleitung (‚referral‘) von Betroffenen der sexuellen Gewalt und zur Kindeswohlbestimmung können zu konkreten Schutzlücken für geflüchtete Kinder führen. Die Erarbeitung des Bundeskooperationskonzeptes „Schutz und Hilfen bei Handel mit und Ausbeutung von Kindern“ hat eine bahnbrechende Grundlage für die interdisziplinäre und behördenübergreifende Zusammenarbeit in der Identifizierung und zum Schutz von betroffenen Kindern gelegt. Die Anwendung dieses oder vergleichbarer Konzepte im gesamten Bundesgebiet ist geboten, um allen Kindern, die von Gewalt und Ausbeutung betroffen sind oder ein Risko haben, verlässliche Hilfen zu garantieren.
Es besteht weiterhin ein Bedarf darauf hinzuwirken, dass die Interessen geflüchteter Kinder und ihr Kindeswohl in allen Bereichen vorrangig beachtet werden. Kinder können nicht darauf zählen, dass sie in ihrer Individualität respektiert werden, und begleitete Kinder werden nicht immer als individuelle Rechtssubjekte wahrgenommen. Geflüchtete Kinder sind von vielschichtigen Strukturen der Ausgrenzung
3 Berthold, Thomas (2014), In erster Linie Kinder, Flüchtlingskinder in Deutschland, Deutsches Komitee für UNICEF, S. 19. Expertisengespräch mit Berliner Jungs, 20. Juli 2016.
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und Ungleichbehandlung betroffen, aufgrund von Herkunft und Aufenthaltsstatus, Form der Unterbringung, begleiteter oder unbegleiteter Ankunft, regionaler und lokaler Unterstützungsangebote und Alter.4 Ob geflüchtete Kinder Zugang zu Beratung, Hilfen, Unterstützung und Recht bekommen, hängt somit von vielen Faktoren ab. Einzelne Jungen und Mädchen können nicht darauf vertrauen, dass ihren Rechten und Bedürfnissen gerade an dem Ort, an dem sie sich aufhalten, angemessen und kompetent begegnet werden kann. Geflüchtete Kinder, die Opfer sexueller Gewalt sind oder bedroht werden, sind daher in vielen Fällen auf sich allein gestellt.
Die Auffangsysteme für Asylbewerber_innen sind in erster Linie auf Erwachsene und unbegleitete Kinder zugeschnitten, auch wenn die neuen Mindeststandards versprechen, Schutzbedarfe von Kindern und vulnerablen Gruppen stärker zu befördern. Begleitete Kinder werden bisher in verschiedenen Kontexten nicht gehört und ihre Rechte und Bedürfnisse werden nicht angemessen berücksichtigt.5 Die Möglichkeit, längerfristige und nachhaltige Zukunftsperspektiven und Resilienz gegen Gewalt und Ausbeutung zu erarbeiten, bleibt insgesamt vielen geflüchteten Mädchen und Jungen verwehrt.6 Eine weitere Herausforderung liegt darin, dass der Schutz geflüchteter Kinder vor sexueller Gewalt nach wie vor in erster Linie national gedacht wird. Dieses Verständnis sollte in der gegenwärtigen Situation neu überdacht werden. Strukturen des transnationalen Kinderschutzes müssen innerhalb der Europäischen Union und mit Drittstaaten beständig gefördert und weiter entwickelt werden. Eine stärkere Beförderung der Kinderrechte und der Teilhabe von Kindern in Prozessen der bi- und multilateralen Zusammenarbeit, in der Friedens- und Staatenbildung ist unerlässlich. Dabei bieten Unterstützungsangebote und die Förderung der Teilhabe von Betroffenen der sexuellen Gewalt wichtige Ansatzpunkte, sexueller Gewalt und anderen Formen der Gewalt als Fluchtursache gezielt entgegenzuwirken.
Die folgenden Handlungsempfehlungen zeigen einige Bereiche auf, in denen gezielte Maßnahmen zu einem besseren Schutz vor sexueller Gewalt beitragen können. Sie sind für die entsprechenden rechtlichen und politischen Reformprozesse, wie beispielsweise die Reform des SGB VIII oder des gemeinsamen europäischen Asylsystems, ebenso relevant wie für Umsetzungsmaßnahmen und Programme, die für geflüchtete Kinder und mit ihnen gestaltet werden.
Handlungsempfehlungen
Zugang zum Staatsgebiet und zum Asylverfahren:
• Unbegleitete Kinder unter 18 Jahren, die ohne gültige Reisedokumente nach Deutschland einreisen oder an der Grenze um Einreise ersuchen, müssen unabhängig vom Ort der Ankunft und unabhängig von ihrer Herkunft an das Jugendamt verwiesen werden, um die vorläufige Inobhutnahme in die Wege zu leiten. Sie müssen die Möglichkeit bekommen, einen Asylantrag zu stellen, mit allen relevanten verfahrensrechtlichen Garantien.
• Unbegleitete Kinder müssen generell vom Flughafenverfahren und anderen beschleunigten Verfahren ausgenommen werden, da diese nicht ausreichend Möglichkeit bieten, sie angemessen
4 Berthold, Thomas (2014), In erster Linie Kinder, Flüchtlingskinder in Deutschland, Deutsches Komitee für UNICEF, S. 16.
5 Berthold, Thomas (2014), In erster Linie Kinder, Flüchtlingskinder in Deutschland, Deutsches Komitee für UNICEF, S. 7, 10.
6 Noske, Barbara (2015), Die Zukunft im Blick, Die Notwendigkeit, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Perspektiven zu schaffen, Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V., S. 19.
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zu informieren, ihre individuelle Geschichte zu hören, ein Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Vormund aufzubauen und das Kindeswohl zu bestimmen.7
• Für Menschen, die vor Verfolgung, Krieg und bewaffneten Konflikten fliehen, bedarf es sicherer und legaler Fluchtwege, unter anderem auch durch höhere Quoten des Resettlements und Ermöglichung der Familienzusammenführung im Einklang mit internationalen Standards.
Kind- und familiengerechte Unterbringung:
• Unterkünfte sollten kind- und familiengerecht gestaltet werden und die Umsetzung der Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen garantieren.
• Das Asylverfahrensgesetz sollte eindeutig regeln, dass unbegleitete Minderjährige in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht werden müssen und die Betreuungskapazitäten in der Praxis müssen entsprechend ausgebaut werden.
• Mitarbeiter_innen, Ehrenamtliche und alle relevanten Berufsgruppen, die in Unterkünften für Geflüchtete tätig sind, müssen ein Sicherheitsscreening und entsprechende Schulungen durchlaufen. Dies beinhaltet die Prüfung des erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses, die Verpflichtung zur Einhaltung von ethischen und gesetzlichen Kinderschutzstandards, die verpflichtende Teilnahme an Schulungen zur Erkennung von Anzeichen von Gewalt, Meldepflichten und Beratungsmöglichkeiten sowie Verhaltensregeln im Umgang mit Kindern und zur Achtung ihrer persönlichen Grenzen.8
• Kinder, Eltern und Familienangehörige sollten Zugang zu Beratungs- und Beschwerdemechanismen haben, wo sie Gefährdungssituationen frühzeitig und vertraulich melden können und sofortige Beratung und Hilfe erfahren.
• Die Art der Unterbringung darf keine Auswirkungen auf den Zugang von Kindern und Eltern zu Leistungen haben, wie bespielsweise Leistungen des Kinderschutzes und der Jugendhilfe, im Bildungsbereich oder andere essenzielle Leistungen, und die soziale Integration von Kindern in die Strukturen vor Ort muss unabhängig von der Art der Unterbringung gezielt befördert werden.
Identifizierung besonders schutzbedürftiger Asylbewerber_innen:
• Standardisierte Verfahren sind notwendig zur Identifizierung besonders schutzbedürftiger Asylbewerber_innen, die die Ermittlung der besonderen Schutzbedürftigkeit und Zuständigkeiten klar regeln und verlässlich angewendet werden. Die vielschichtige Vulnerabilität von Kindern, die sexuelle Gewalt erfahren haben, sollte dabei besonders berücksichtigt werden. Solche Verfahren sollten in das Aufnahme-, bzw. Clearingverfahren und das Verfahren zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls integriert werden.
• Erfahrungen der sexuellen Gewalt, entsprechende Gefährdungslagen und die damit verbundenen Risiken und Formen der Resilienz sollten in diesem Verfahren besondere Aufmerksamkeit erhalten.
Standardisierte und integrierte Verfahren zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls:
7 Positionspapier „Flüchtlingskinder in Deutschland – Politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf nach Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention“, In: Deutsches Rotes Kreuz, Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (2012), Kindeswohl und Kinderrechte für minderjährige Flüchtlinge und Migranten, Eine Sammlung von Texten und Materialien, S. 104-116, S. 110.
8 Zartbitter e.V. (2015), Flüchtlingskinder haben ein Recht auf Schutz vor sexueller Gewalt, Zum Risiko sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt in Flüchtlingsunterkünften, Presseerklärung, Köln, 19. 08. 2015. Siehe dazu auch: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017), Mindesstandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften, Mindeststandard 2.
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• Das Clearing- und Hilfeplanverfahren sollte flächendeckend für alle geflüchteten Kinder durchgeführt werden.
• Kindern mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus sollte für die Dauer des Clearingverfahrens zumindest eine Duldung ausgesprochen werden, um ihre Anwesenheit während der nötigen Ermittlungen und Verfahren zu ermöglichen. Ein geregelter Aufenthaltsstatus schützt das Kind vor Ausweisung, Abschiebehaft oder sonstigen Sanktionen und ermöglicht es, dass das Kind nach der Flucht zur Ruhe kommt, Informationen, Beratung und Orientierung erhält, und Vertrauen in die Betreuung, Behörden und die Aufnahmegemeinde fassen kann. Auf diese Weise wird Zeit gewonnen, um das Kindeswohl zu ermitteln und zu bestimmen, gemäß Artikel 3 der Kinderrechtskonvention und Artikel 24 der EU Charta. Diese Phase bietet wichtige Chancen, Erfahrungen oder Risiken der sexuellen Gewalt und Quellen der Resilienz des Kindes besser zu verstehen, und das Kind angemessen zu schützen bzw. Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten.
• Das Hilfeplanverfahren sollte flächendeckend für alle geflüchteten Kinder angeboten werden, insbesondere für Unbegleitete, aber auch für begleitete Kinder, die besondere Schutzbedürfnisse haben, kann es sinnvoll sein. Es sollte unverzüglich eingeleitet und kontinuierlich durchgeführt werden. Das Modell der interdisziplinären Fallkonferenzen ließe sich in das Hilfeverfahren integrieren. Das Hilfeplanverfahren könnte weiter gestärkt werden, wenn es im Sinne des vom Europarat empfohlenen „Life Project“ Modells9 ein transparentes, multidisziplinäres und kindzentriertes Verfahren in der Planung ermöglicht, das auf die längerfristige Perspektive und den Übergang in ein selbstständiges Erwachsenenleben abzielt. Das Verfahren zur Hilfeplanung ist gut geeignet, die Vulnerabilität eines geflüchteten Kindes für sexuelle und andere Formen der Gewalt einzuschätzen, Gewalterfahrungen zu erkennen, Risiken und Resilienzen zu verstehen und entsprechend zu mindern bzw. zu fördern.
• Ein zentraler Bestandteil des Verfahrens zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls sind Einschätzungen von Risiken und Quellen der Resilienz, insbesondere auch in Bezug auf sexuelle Gewalt und die damit verbundene Identifikation besonders schutzbedürftiger Personen. Dies ist ebenso relevant im Kontext des Hilfeplanverfahrens, des Clearingverfahrens und des Asylverfahrens. Erfahrungen bzw. Risiken der sexuellen Gewalt müssen in allen Phasen der Migration bedacht und eingeschätzt werden, im Herkunftsland und in der Herkunftsregion, auf der Flucht, in Transitländern, in Deutschland und bei eventueller Weiterreise, Transfer oder Rückführung. Einschätzungen von Risiken und Resilienz sind aussagekräftiger, wenn sie durch ein interdisziplinäres Team durchgeführt werden.
• Es wäre wichtig, Methoden und Ansätze zu erarbeiten, die es ermöglichen, standardisierte Verfahren zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls mit dem Clearingverfahren, dem Hilfeplanverfahren und Fallkonferenzen und dem Asylverfahren für geflüchtete Kinder zu koordinieren bzw. zu integrieren. Dies wäre nicht nur im Sinne der Rechte und Interessen des Kindes, sondern auch sinnvoll für die Entlastung von Behörden und Fachkräften, Überlegungen zur Kosteneffizienz und Nachhaltigkeit von Entscheidungen, die geflüchtete Kinder betreffen.
• Es bedarf der gesetzlichen Verankerung der vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls und des Anhörungsrechtes von Kindern in allen sie betreffenden Entscheidungsprozessen. Präzisere Gesetzestexte, Regelungen und Leitlinien zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls in der
9Council of Europe, Committee of Ministers (2007), Recommendation CM/Rec(2007)9 of the Committee of Ministers to member states on life projects for unaccompanied migrant minors, Adopted by the Committee of Ministers on 12 July 2007 at the 1002nd meeting of the Ministers’ Deputies, 2007.
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Praxis sind notwendig, die für alle Kinder gelten und gleichermaßen in der Kinder- und Jugendhilfe, im Kinderschutz, im Aufenthaltsrecht und Asylverfahrensrecht angewendet werden.10
• Standardisierte Verfahren zur Bestimmung des Kindeswohls sollten kinderrechtsbasiert und multidisziplinär sein, das Anhörungsrecht einschließen und Verfahrensgarantien bieten, wie zum Beispiel Transparenz, Beschwerdemechanismen, Rechtsmittel und die Unterstützung durch den Vormund.
• Kinderspezifische Fluchtgründe müssen systematisch gehört, geprüft und berücksichtigt werden, unabhängig davon, ob Kinder oder Jugendliche allein oder gemeinsam mit ihren Eltern um Asyl ansuchen.
• Schulungen zur Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls für geflüchtete Kinder werden für alle relevanten Entscheidungsträger benötigt und für Berufsgruppen, die für geflüchtete Kinder und mit ihnen arbeiten. Schulungen sollten insbesondere auch multidisziplinär, behördenübergreifend und unter Einbezug von öffentlichen und privaten Akteuren stattfinden.
Anhörung geflüchteter Kinder:
• Kinder, die gemeinsam mit ihrer Familie um Asyl ansuchen, sollten routinemäßig angehört und auf kinderspezifische Fluchtgründe hin begutachtet werden. Mehr Informationsarbeit für Kinder und Eltern, gezielte Aufmerksamkeit für die Situation von Kindern und eine systematische Abklärung und Berücksichtigung kinderspezifischer Fluchtursachen wären entscheidend, um die Rechte der Kinder besser zu schützen.11
• Anhörungen von geflüchteten Kindern sind gerade auch im Hinblick auf sexuelle Gewalt als kinderspezifische Fluchtursache sowie auf der Flucht erforderlich. Sie sind der Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Situation und Bedürfnisse von begleiteten und unbegleiteten Kindern, um gezielte Hilfen anzubieten, die das Risiko der Kinder, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, vermindern und ihre Resilienz stärken.
• Alle Fachkräfte, die mit geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Familien arbeiten, sollten systematisch in der Anhörung von begleiteten und unbegleiteten Kindern und kindgerechter Kommunikation geschult werden.
• Altersgrenzen müssen aufgehoben werden, um allen Kindern die Möglichkeit zu einer Anhörung mit entsprechenden Verfahrensgarantien zu geben.
• Die Qualität in der Sprachmittlung muss gestärkt werden, zum Beispiel durch die Nutzung eines telefonischen Übersetzungsdienstes, der die Privatsphäre der Kinder und Eltern schützt und in zahlreichen Ländern bereits mit guten Erfahrungen angewendet wird. Zudem wäre es sinnvoll, im Asylverfahren schriftliche Aussagen von Kindern zuzulassen, in denen sie besonders sensible Informationen offenlegen können. Das Wissen über sensible Informationen erlaubt es den Fachkräften, die Anhörung entsprechend vorzubereiten und zum Beispiel telefonische Übersetzung anstelle von Dolmetscher_innen vor Ort anzubieten.
• Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge könnte besser mit den bestehenden
Clearingverfahren für geflüchtete Kinder vernetzt werden. Im Clearingverfahren werden
10Siehe Beispiel Finland: Council of the Baltic Sea States [Baltischer Rat] (2015), Guidelines Promoting the Human Rights and the Best Interests of the Child in Transnational Child Protection Cases [Leitlinien zur Förderung der Menschenrechte und des Kindeswohls im transnationalen Kinderschutz]. Siehe Beispiel Österreich: Association ‘I Girasoli’ und Defence for Children International – Italien (2016), SafeGuard, Safer with the Guardian, Transnational Report Europe. Skuttka, Sabina (2010), Kindeswohl braucht Strukturen und Gesetze, In Deutsches Rotes Kreuz, Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (2010), Kindeswohl für minderjährige Flüchtlinge und Migranten, Eine Sammlung von Texten und Materialien, S. 7-12, S. 12.
11 Berthold, Thomas (2014), In erster Linie Kinder, Flüchtlingskinder in Deutschland, Deutsches Komitee für UNICEF, S. 19.
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Informationen über geflüchtete Kinder offengelegt, die direkt für das Asylverfahren relevant sind. Wenn das Clearingverfahren zu dem Schluss kommt, dass es im Kindeswohl ist, einen Asylantrag zu stellen, so wäre es effektiv und effizient, dass die Informationen aus dem Clearingverfahren dem BAMF zur Verfügung gestellt werden, unter Berücksichtigung geltender Bestimmungen zum Datenschutz. Dazu können geeignete Formulare, Leitlinien und Schulungen konzipiert werden. Der Vorteil ist, dass die Fachkräfte, die das Kind im Clearingverfahren begleiten, oft ein weit umfassenderes Verständnis der Geschichte des Kindes haben, die für das Asylverfahren unmittelbar relevant ist. Die Bearbeitung der Anträge im BAMF wird dadurch effizienter und sicherer gestaltet, und es ist davon auszugehen, dass die Entscheidungen besser fundiert sind, das Kindeswohl besser berücksichtigen, und daher auch nachhaltiger sind.
Vormundschaft:
• Bundesweit einheitliche Qualitätsstandards für die Vormundschaft für alle Minderjährigen sind notwendig. Diese Qualitätsstandards sollten in bundesweit einheitlichen Aus- und Fortbildungsprogrammen gelehrt werden.
• Die Entwicklung von einheitlichen Strukturen zur Qualifizierung, Unterstützung und Begleitung von Vormündern sollte gefördert werden, entweder durch bestehende staatliche Strukturen oder in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft oder privaten Trägern.
• Die Funktion des Vormunds als Fürsprecher, Vermittler und Advokat für die Rechte, Interessen und Belange seiner oder ihrer Mündel muss gestärkt werden. Dies bedarf einer guten Vernetzung der Vormünder mit allen relevanten Behörden, privaten Trägern und anderen Akteuren, die mit dem Mündel in Kontakt stehen. Es bedarf zudem einer verstärkten Autorität des Vormunds im Umgang mit Behörden. Die Autorität des Vormunds wird maßgeblich durch die Qualität der bundesweiten Strukturen zur Qualifizierung, Unterstützung und Begleitung von Vormündern mitbestimmt.
• Kinder müssen besser und verlässlich über die Funktion des Vormunds informiert werden. Es besteht ein Bedarf an kindgerechten Beratungs- und Beschwerdemechanismen zur Vormundschaft, die für geflüchtete Kinder niederschwellig zugänglich sind.
• Zugang zu Leistungen und Hilfen für Kinder unter dem SGB sollten zumindest für geflüchtete Kinder von der Antragstellung durch den Vormund abgekoppelt und niederschwellig angeboten werden.
Soziale Inklusion, Teilhabe und Entwicklung von geflüchteten Kindern gezielt fördern:
• Der Zugang geflüchteter Kinder zu Kindertageseinrichtungen, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit muss gefördert werden. Dies ermöglicht Zugang zu Bildung und sozialer Integration, Überwindung der Isolation und räumlichen Enge der Gemeinschaftsunterkünfte und Ergänzung zu den begrenzten Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes.12
• Der Zugang von geflüchteten Kindern zu Bildung sollte unmittelbar nach der Ankunft in allen
Bundesländern garantiert werden. Wenn die Eingliederung in Regelschulen oder Ausbildungsplätze nicht sofort möglich ist, können qualitativ hochwertige Vorbereitungskurse in Not- und
12Peucker, Christian und Mike Seckinger (2014), Flüchtlingskinder: Eine vergessene Zielgruppe der Kinder- und Jugendhilfe, In: Deutsches Jugendinstitut, Impulse, (Über)Leben, Die Probleme junger Flüchtlinge in Deutschland, Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts, 1/2014, Nr. 105, S. 12-14, S. 14.
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Erstaufnahmeeinrichtungen eine gute Übergangslösung bieten, im Hinblick auf die spätere Eingliederung in die Schule oder Berufsausbildung.
• Schulen müssen ausreichend mit finanziellen Mitteln und geschultem Personal und Zugang zu spezifischer Beratung und Unterstützung ausgestattet werden (z.B. interkulturelle Mediation, Übersetzung, Trauma-Beratung), um die Eingliederung von geflüchteten Kindern zu meistern, unabhängig von ihrem Alter, und auch für Jugendliche, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind.
• Schul- und Ausbildungszeugnisse aus dem Herkunftsland sollten soweit möglich anerkannt werden. Ebenfalls sollten Kinder kontinuierlich ihre Zeugnisse ausgehändigt bekommen, da diese in Übergangsphasen, bei der Weiterreise oder möglicher Rückkehr wichtig sind.
• Interkulturelle Kompetenzteams in Unterkünften und/oder Gemeinden (nach dem Beispiel des Freiburger Regierungspräsidiums) können sinnvoll sein, um den Dialog mit Geflüchteten zu stärken. Im Gegensatz zu der Funktion von politischen Integrationsbeauftragten, können sie in organisatorischen und Alltagsfragen vermitteln sowie Maßnahmen für Schutz, Förderung und Prävention mit den geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Familien besprechen und auf ihre Ansichten und Vorschläge in angemessener Weise eingehen.13
• Die Unsicherheit über die Zukunft und Bleibeperspektiven, mögliche Gewalterfahrungen und Traumata, finanzieller Druck durch Schulden oder Erwartungen der Familie, gepaart mit erzwungener Untätigkeit und unstrukturierten Tagesabläufen sind hinderlich für die Bildung von Resilienz und schaffen einen fruchtbaren Boden für Aggressionen, Konflikte und Gewalt. Daher ist es wichtig, für sinnvolle Beschäftigung der geflüchteten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu sorgen, sowohl in der eigenen Unterbringung und im Alltag als auch in Schule, Ausbildung und Arbeit, in sozialer Teilhabe, Freizeitaktivitäten und Sport sowie Aktivitäten vor Ort.
• Geflüchteten Kindern sollte verstärkt Beratung angeboten werden, auch in kultursensiblen Formen, wie zum Beispiel getrennte Beratungsangebote für Jungen und Mädchen. Die Willkommensklassen könnten dafür auch einen guten Rahmen bilden. Beratung sollte für Risiken der sexuellen Gewalt in Deutschland sensibilisieren und Informationen über Hilfsangebote und weiterführende individuelle Beratung einschließen.
• Es ist notwendig, die aufsuchende Sozialarbeit und Beratung für vulnerable Gruppen und
Betroffene der sexuellen Gewalt stärker auszubauen und längerfristig in der kommunalen Planung zu berücksichtigen, stabil zu finanzieren und mit allen relevanten Akteuren zu vernetzen. Dabei sollten die Angebote für Mädchen und Jungen, kultursensible Beratung und aufsuchende Sozialarbeit für Geflüchtete in den entsprechenden Unterkünften gezielt verstärkt werden.
Opferhilfe, Schutz und Zugang zu Gerichten für minderjährige Betroffene von sexueller Gewalt:
• Eine standardisierte Vernetzung und institutionalisierte Zusammenarbeit nach Vorbild eines „referral“ Mechanismus ist notwendig, um eine verlässliche und koordinierte Weiterleitung der von Gewalt betroffenen Kinder zu gewährleisten. Durch klar geregelte Netzwerke müssen Kinder, die Opfer sexueller Gewalt sind oder ein Risiko haben, verlässlich Zugang zu Schutz, Unterstützung und Behandlung bekommen sowie Zugang zu Gerichten mit bundesweit einheitlichen Qualitätsstandards. Das Bundeskooperationskonzept „Schutz und Hilfen bei Handel mit und Ausbeutung von Kindern“ hat hierzu eine wichtige Grundlage erarbeitet. Im Fall von geflüchteten Kindern könnten das Hilfeplanverfahren und die Fallkonferenzen als weitere Grundsteine für einen
13Expertisengespräch mit dem Regierungspräsidium Freiburg, 15. August 2016.
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„referral“ Mechanismus dienen, da sie bereits wichtige Akteure und Fachkräfte in einem kindzentrierten Modell zusammenbringen. Diese Koordinierungs- und Planungsverfahren müssen verstärkt mit bestehenden Netzwerken für den Kinderschutz verbunden werden und flächendeckend, möglichst inklusiv für alle Kinder und Risikogruppen, angewendet und befördert werden.
• Das Barnahus Modell bzw. ein vergleichbares vom Kind her gedachtes Modell sollte in einem Pilotprojekt getestet und daraufhin in einer für die Bundesrepublik geeigneten Form flächendeckend eingeführt werden, um den Zugang von Kindern zu Recht und Gerichten zu stärken. Geflüchtete Kinder sowie Opfer des Handels mit Kindern sollten von Beginn an als Zielgruppe mitberücksichtigt werden.
• Geflüchtete Kinder, die Opfer sexueller Gewalt sind, sollten niederschwellig und auch außerhalb von Ermittlungsverfahren oder Gerichtsprozessen Zugang zu Schutz und Unterstützung für ihre Rehabilitierung und soziale Wiedereingliederung haben.
• Die grenzübergreifende Zusammenarbeit europäischer Staaten sollte insbesondere im Bereich des transnationalen Kinderschutzes, der Weiterleitung von Betroffenen (Referral) und des Informationsaustausches über besonders gefährdete und schutzbedürftige Personen gestärkt werden, im Einklang mit entsprechenden internationalen und europäischen Standards im Bereich der Kinder- und Menschenrechte und unter besonderer Berücksichtigungen der Richtlinien zu Datenschutz und Nichtzurückweisung (non-refoulment).14
Bekämpfung von sexueller Gewalt in Herkunftsländern und -regionen:
• Angebote zur Unterstützung und Stärkung von vulnerablen Gruppen und Opfern sexueller Gewalt in Herkunftsländern und –regionen bieten wichtige Ansätze für die Friedensstiftung, Friedenskonsolidierung, für Stabilität und Staatenbildung. Die deutsche Bundesregierung kann einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie solche Ansätze im Rahmen der Vereinten Nationen, der EU und anderen relevanten Foren vorantreibt. Gezielte Beratungs- und Unterstützungsangebote in Herkunftsländern und –regionen sollten gefördert werden, auch im Hinblick auf die Bekämpfung der sexuellen Gewalt als Fluchtursache.
• Die Arbeit mit geflüchteten Menschen bietet wichtige Chancen für die Friedensbildung auch aus der Diaspora heraus und kann dazu beitragen, Extremismus vorzubeugen. Dabei spielen Kinder, Frauen, Menschenrechtsaktivist_innen, Personen mit religiösen oder anderen gesellschaftlichen Führungsrollen eine wichtige Rolle als Friedensbilder_innen und sollten entsprechend geschult bzw. unterstützt werden.15
Datenerhebung, Analyse und Forschung für politische Planung:
• Die Erhebung und Analyse differenzierter Daten zu geflüchteten Kindern, Daten zu ihrem Zugang und Inanspruchnahme von Leistungen und Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung, Bildung, Kinderschutz und Jugendhilfe muss voran gebracht werden.
14United Nations Refugee Agency, United Nations Population Fund, Women’s Refugee Commission (2016), Initial Assessment Report: Protection Risks for Women and Girls in the European Refugee and Migrant Crisis, Greece and the former Yugoslav Republic of Macedonia, S. 12.
15Siehe dazu auch: United Nations [Vereinte Nationen] (2016), Report of the Secretary-General on Conflict-related Sexual Violence [Bericht des Generalsekretärs zu konfliktbezogener sexueller Gewalt], S/2016/361/Rev.1, 22. Juni 2016, par. 42.
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• Evaluierungen und Wirkungsanalysen sind notwendig, um die begrenzten Mittel für den Kinderschutz, die Kinder- und Jugendhilfe und zur Unterstützung der Entwicklung und sozialen Integration geflüchteter Kinder möglichst zielgerichtet und effizient einzusetzen.
• Partizipative Forschung sollte dabei einen großen Stellenwert haben. Sie schließt nicht nur die Teilhabe der betroffenen Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall geflüchtete Kinder und ihre Familien, ein, sondern auch die Personen und Berufsgruppen, die mit ihnen und für sie arbeiten.
• Politische Planung sollte auf solchen Daten, Analysen und Forschungen basieren und entsprechend überprüft und angepasst werden. Dazu wäre auch eine regelmäßige parlamentarische Debatte wünschenswert, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.
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